Von Katharina Körting
Wenn man ohne Navi per Bahn und Rad unterwegs ist, muss man es erstmal finden: das „Helmut-Gollwitzer-Haus“. Obwohl eines der drei Gebäude lachsfarben angestrichen ist, liegt es doch unauffällig an der Adlershorststraße 5 in Wünsdorf, Stadt Zossen im Teltow-Fläming, rund 60 Kilometer südlich von Berlin. Noch versteckter ist der dazugehörige Sportplatz, malerisch gelegen am Großen Wünsdorfer See, etwa 1000 Meter Kopfsteinpflasterstraße entfernt. Eine Gruppe Jugendlicher balanciert auf Getränkekisten und hat Spaß. Das älteste Haus der Jugendbildungsstätte steht seit 1911. Ihm gegenüber, wo früher eine Backsteinscheune war, entstand mit „Westgeld“ 1982 bis 1985 ein Neubau: das heutige, stark sanierungsbedürftige Haupthaus mit Küche und Speisesaal. Zu Pfingsten beginnt eine Spendenaktion für die schadhafte Fassade. Hier ist der Link auf die SpendenAPP der Landeskirche.
Seit 1991 gibt es Fördermittel des Berliner Senats. Der Bedarf stieg. 1996 kam ein weiteres Gebäude dazu – und der Name „Helmut-Gollwitzer-Haus“. 8 Beschäftigte kümmern sich um die Gäste und die 20 Zimmer mit 60 Betten, 5 Seminarräume, den Freizeitkeller. Alles wirkt ein wenig zusammengewürfelt, doch das Ziel ist damals wie heute klar: soziale Bildung vor allem für benachteiligte Jugendliche.
Raus aus der Not der Mietskasernen
Der Betrieb der Jugendbildungsstätte war immer wieder gefährdet, zeitweise unterbrochen, und überstand mehrere Systemwechsel: Weimarer Republik, Nationalsozialismus, DDR, BRD. Auf undatierten Schwarz-Weiß-Fotos sind junge Männer an großen Tischen mit lachenden Gesichtern zu sehen. Hausleiterin Bettina Beig findet zwei DIN-A4-Seiten mit Aufzeichnungen zur Nutzung seit 1922. Demnach hat der Wünsdorfer Bauer Fritz Quappe seinen Hof zum Verkauf angeboten und Jugendsekretär Hans Ruof, Diakon und Sekretär des Christlichen Vereins junger Männer der Versöhnungsgemeinde im Berliner Wedding, nutzte die Gelegenheit. Angeregt durch die Reformpädagogik wollte er Kinder und Jugendliche aus der Not der Mietskasernen und Hinterhöfe herausholen – wenigstens in den Ferien. Also organisierte er 80000 Mark Spenden und weitere 80000 als Darlehen und versammelte zu Pfingsten 1922 die ersten 150 Jungen „unter Gottes Wort“ in Wünsdorf.
Heute liege der inhaltliche Schwerpunkt auf Konfliktmanagement und Teamverantwortung, sagt Hausleiterin Bettina Beig. Immer mehr Bedeutung hätten erlebnispädagogische Angebote wie Kanufahren und Floßbauen: vormittags herkömmliches Lernen im Seminarformat mit Flipchart – nachmittags Bewegung und frische Luft. Im Speisesaal hängt ein buntes Kreuz, doch christliche Werte würden eher „informell“ vermittelt, etwa, wenn am Nebentisch jemand ein Tischgebet spricht. „Im Helmut-Gollwitzer-Haus ist eine sehr niedrigschwellige und lebensnahe Jugendbildungsarbeit möglich“, erklärt die Landesjugendpfarrerin Julia Daser. „Da erreichen wir auch Gruppen, die wir sonst als Kirche nicht erreichen würden.“
Heu, gesunde Küche, Sport und Spiel
Die Unterbringung war in den 1920er Jahren noch rustikaler als in den heutigen Mehrbettzimmern: Die proletarische Berliner Jugend schlief auf Heu, genoss gutbäuerliches Essen und tobte sich aus bei Sport und Spiel – samt Badestrand und Pferdeschwemme. Am 15. Juli 1923 wurde der Ort „Landheim Jugendfreude“ getauft. Die jungen Gäste legten auch eine Pflaumenallee an. Hans Ruof blieb bis 1933, dann musste er zur Wehrmacht – warum, geht aus den Akten nicht hervor. Auch wer nach ihm kam, ist unklar: „1933 bis 1950: Diakon Hofmann??“ steht in der Notiz.
In dem gelben Haus gegenüber, erzählt Bettina Beig, habe später die Stasi gesessen und alles beobachtet. Vielleicht wisse Michael Frenzel mehr darüber. Frenzel ist 67 Jahre alt und hat noch bis zu seinem Ruhestand im September die Studienleitung Jugendarbeit der Landeskirche im Amt für kirchliche Dienste (AKD) inne. „Einmal traf sich eine Gruppe im Haus, die eine Bluesmesse vorbereitete“, erinnert er sich, „da standen fünf, sechs Ladas der Stasi vor der Tür – das war normal.“ Natürlich seien dort auch Themen besprochen worden, die „für die Sicherheitsorgane der DDR von Interesse waren“.
Nazis in Teltow-Fläming
In den 1990er Jahren zeigten Rassismus und Rechtsradikalismus auch rund um Zossen ihr brutales Gesicht. Die „Freien Kräfte Teltow-Fläming“ waren bis zu ihrem Verbot 2011 eine der größten rechtsextremistischen Gruppierungen in Brandenburg. Sie schändeten jüdische Stätten, drohten und pöbelten mit Hitler-Grüßen.
Welche Art der Bildungsarbeit im „Landheim Jugendfreude“ zur Zeit der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ stattfand, spielte beim Wiederaufbau in den 1980er Jahren zunächst keine Rolle. Die evangelische Jugend wurde im Dezember 1933 in die Hitlerjugend eingegliedert, zuständig war Reichsjugendpfarrer und NSDAP-Mitglied Karl Zahn. „Darüber wurde nie gesprochen“, sagt Frenzel. „Für uns standen die Zukunftsgestaltung und die Rettung des Hauses im Vordergrund“, meint selbstkritisch Hanfried Zimmermann, der Rüstzeiten für Konfirmanden im Helmut-Gollwitzer-Haus abhielt, später Ostberliner Stadtjugendpfarrer und Vorsitzender des Kuratoriums für die Bildungsstätte war.
Die Wünsdorfer Geschichte ist leichter zu recherchieren: Bauer Quappe wird über die Liste NSDAP 1 zum Gemeindevorsteher gewählt. Sportler trainierten für die Olympischen Spiele 1936. Bis April 1945 war der „Zeppelin“-Bunker auf dem Wehrmachtsgelände in Wünsdorf einer der größten Nachrichtenknotenpunkte während des Zweiten Weltkriegs. In der Bunkeranlage war das Oberkommando der Wehrmacht untergebracht. Von hier kamen die Befehle zu den deutschen Truppen in ganz Europa. Adolf Hitler beschwor den „Geist von Zossen“, um die Wehrmacht vom Angriff auf Frankreich zu überzeugen.
Direktzug nach Moskau
Nach 1945 nutzten sowjetische Truppen die Infrastruktur. Wünsdorf blieb Militärstandort – bis zum Abzug der Truppen 1994. Strenge Bewachung schirmte das Gelände ab. Bis zu 75000 Soldaten lebten hinter Mauern und Zäunen. Es gab Geschäfte, Schulen, Kindergärten und eine Badeanstalt. Und vom Bahnhof fuhr jeden Tag ein direkter Zug nach Moskau. „Man musste einen großen Umweg fahren“, erinnert sich Hanfried Zimmermann. „An das Gerücht, dass dort Stasi-Leute waren, kann ich mich auch erinnern.“
Im Landheim Jugendfreude lagerten nach dem Krieg zunächst Möbel von Evakuierten, die Gebäude drohten zu verfallen, ehe evangelische Jugendgruppen es bei Arbeitseinsätzen instand setzten. Zwischenzeitlich fanden hier 5. und 6. Klassen der Schule Wünsdorf Unterschlupf. Ab Ende der 1950er Jahre konnte hier wieder christliche Jugendbildung stattfinden. Der Eigentümer der Immobilie – der Verein Evangelisches Gemeindeheim Versöhnung – war in Westberlin. Nach dem Mauerbau übernahm der damalige Kirchenkreis (Ost-)Berlin Stadt III die Verantwortung, doch das Grundstück blieb „Westeigentum“.
Um eine Enteignung zu vermeiden, schenkte der Weddinger Versöhnungs-Verein dem Ostberliner Kirchenkreis 1982 das Grundstück. Wieder wurde mit viel Eigenleistung rund um den Neubau gewerkelt, um den Weiterbetrieb zu ermöglichen. Der Kirchenkreis überließ die Immobilie 1985 der Landeskirche zur kostenfreien Nutzung. Diese trägt dafür Betriebskosten und Bauunterhalt. Klingt kompliziert? – „Ist es aber nicht“, findet Clemens Bethge, Referatsleiter Kirchliches Leben im Konsistorium. Rechtliche Grundlage sei der unterzeichnete Nutzungsvertrag vom 15. November 1984. „Das Gollwitzer-Haus ist ein Beispiel für gelingende Zusammenarbeit von Gemeinde-, Kirchenkreis- und landeskirchlicher Ebene und von Berlin und Brandenburg“, meint Bethge –und das über Jahrzehnte und alle formalen und politischen Widerstände hinweg.
Zeit für Erinnerung und Aufarbeitung
Für Julia Daser ist die 100-Jahr-Feier am 18. August Anlass, die Geschichte aufzuarbeiten: Außer einem großem Jubiläums-Gottesdienst mit Bischof Stäblein und Sektempfang sei deshalb ein kleiner geschichtlicher Spaziergang geplant.
Erinnerung an das, was war, wäre ganz im Sinne des Namensgebers. Helmut Gollwitzer (1908–1993) hatte sich in der Bekennenden Kirche gegen Rassenhass und Gleichschaltung, in der BRD gegen Massenvernichtungswaffen und für die Studentenbewegung eingesetzt – er war ein sehr diesseitiger Theologe. „Christen müssen Sozialisten sein“, hatte Gollwitzer mitten im ideologisch aufgeheizten Kalten Krieg gefordert. „Er wusste, dass eine Gesellschaft ohne kritische Jugend verloren ist“, sagt Hannemann, der die Neubenennung initiierte. So wurde 1996 ausgerechnet auf ehemals realsozialistischem Grund, in der Hochzeit des Neoliberalismus, eine traditionsreiche Bildungsstätte nach dem streitbaren christlichen Sozialisten benannt. Dem hätte die verwickelte West-Ost-Historie womöglich gefallen – weil es der Kirche doch zuerst um Gemeinschaft geht. Und weil kirchliches Eigentum verpflichtet – bestenfalls zur Veränderung hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit.