Frau Heider-Rottwilm, seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist von einer sicherheitspolitischen „Zeitenwende“ die Rede. Bedeutet diese auch eine „Zeitenwende“ für die Friedenskirchen?
Sie bedeutet insofern eine „Zeitenwende“, als wir alle heftig herausgefordert sind, noch viel klarer die Ursachen und Folgen eines Krieges zu analysieren, Konsequenzen zu ziehen und Alternativen deutlich zu machen.
Welche wären das?
Zunächst: Der brutale russische Überfall ist durch nichts zu rechtfertigen! Und es wäre erbarmungslos und zynisch, den Menschen in der Ukraine vorzuschreiben, wie sie sich zu verteidigen haben. Aber es geht um eine tiefgreifende und selbstkritische Analyse der Ursachen des Konfliktes. Auch dieser Krieg macht deutlich, dass die global so viele Menschenleben kostende Verkettung von Machtinteressen, Ausbeutung, Bedrohungsszenarien, Gewalteskalation et cetera analysiert werden muss. „Zeitenwende“ bedeutet für mich, endlich ernst zu nehmen, dass wir an den Ursachen arbeiten müssen, dass es um globale Gerechtigkeit und Menschenrechte geht. Es geht darum, Rüstungskontrollvereinbarungen zu stärken und endlich konsequent alle anderen Instrumentarien auszubauen statt Aufrüstung und militärische Kompetenz.
Was bedeutet das konkret?
Die Gefahr gewaltförmiger Konflikte ist mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern, heiße Konfliktsituationen sind zu deeskalieren, Menschen zum Widerstand zu befähigen, sowohl gegen den Krieg wie auch in einer Niederlage im Widerstand gegen eine Besatzung. Und nach einem Krieg geht es um Traumabearbeitung, Heilung von Erinnerungen, Wahrheitsfindung, weiteren gewaltfreien Einsatz für Gerechtigkeit und Freiheit als Voraussetzung zur Versöhnung. All das muss gelernt werden, darauf müssen wir vorbereitet werden. Dafür muss mehr denn je in Menschen und Kompetenzen investiert werden, mindestens so viel wie bisher in Waffen! Das erfordert ein radikales Umdenken statt einer weiter eskalierenden Rüstungsspirale.
Wie haben Sie vor diesem Hintergrund die kirchlichen Reaktionen auf den Kriegsausbruch wahrgenommen?
Die Äußerungen von Kirchenvertreter*innen nach dem 24. Februar fand ich in dem, was sie an Kontexten beschrieben und an Warnungen ausgesprochen haben, zumeist überzeugend. Und trotzdem frage ich mich angesichts der vorherrschenden Argumentation, „wir können niemandem das Recht auf Selbstverteidigung absprechen, deshalb unterstützen wir Waffenlieferungen“: Warum müssen Kirchen die friedensethische Legitimation für das liefern, was die Politik macht? Mir sind die Kirchen da weitgehend zu konform mit dem, was gerade offizielle Politik ist.
Aber lässt sich die kirchliche Befürwortung von Waffenlieferungen an die Ukraine nur politisch als Ausdruck von Konformität erklären oder nicht auch theologisch herleiten? Bewegt sich die Unterstützung der Ukraine bei der Wahrnehmung ihres Selbstverteidigungsrechts nicht im Bereich der „Ethik rechtserhaltender Gewalt“, wie sie die EKD-Friedensdenkschrift von 2007 beschreibt?
Sie haben recht und wir landen dann natürlich bei der Frage: Welchen Stellenwert hat die Kundgebung der EKD-Synode 2019? Ist sie eine Neuauflage dessen, was in der Friedensdenkschrift von 2007 steht, oder ist sie eine Weiterentwicklung? Nach den intensiven Debatten von 2007 bis 2019 haben wir als Friedenengagierte die Kundgebung so verstanden, dass der Vorrang für Gewaltfreiheit das ist, wofür wir als Kirchen stehen: Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen (Matthäus 5,9). Oder: Leistet dem Bösen nicht mit gleichen Mitteln Widerstand. Vielmehr, wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, halte ihm auch die andere Backe hin (Matthäus 5,38.39). Deshalb ist es uns als Kirchen vom Evangelium her geboten, alles zu tun, damit der Vorrang für Gewaltfreiheit auch politisch umgesetzt wird. Und damit sind wir eine Zumutung für politisch Verantwortliche!
Würde dies aber letztlich nicht eine Revision des Konzeptes des „gerechten Friedens“ bedeuten?
Es geht nicht um eine Revision. Es muss aber weiterdiskutiert werden. Wir brauchen einen ernstzunehmenden Diskurs um die theologische Begründung und um die ethische Relevanz der Gewaltfreiheit. Der friedensethische Diskurs ist immer nur bis zu einer bestimmten Stelle geführt worden, nämlich bis zu dem Recht auf militärische Verteidigung beziehungsweise der Responsibility to Protect, also der Rechtfertigung eines militärischen Eingreifens im Falle von Menschenrechtsverletzungen. Aber es geht doch um die Alternativen!
Seit 2018 etwa wird das innerhalb der Badischen Landeskirche erarbeitete Szenario „Sicherheit neu denken“ diskutiert und weiterentwickelt. Es beschreibt konkrete Handlungsmöglichkeiten auf dem Weg von einer militärischen zu einer zivilen Sicherheitspolitik. Von hier aus können Visionen für die Zukunft entwickelt werden. Demgegenüber gibt es aber immer noch eine zu große Zurückhaltung.
Sehen Sie für eine solche Weiterentwicklung Anknüpfungspunkte in der gegenwärtigen friedensethischen Debatte?
Es gibt ja Kriterien – auch im ökumenischen Konzept des „gerechten Friedens“ und selbst in dem des „gerechten Krieges“ – die einschränken, wann eine militärische Reaktion oder Aktion überhaupt sinnvoll und verantwortbar ist, etwa angesichts der Opfer, die ein Einsatz fordert. Man muss sich doch der Frage stellen, was wirklich Solidarität bedeutet in einem Krieg wie diesem und ob Solidarität nicht auch bedeuten kann, an bestimmten Punkten andere Aspekte und eine andere – an Gewaltfreiheit orientierte – Kompetenz ins Spiel zu bringen.
Welche Argumente kann die christliche Friedensbewegung hierfür ins Spiel bringen?
Die unleugbar klare Einladung Jesu auf den Weg der aktiven Gewaltfreiheit – und die Erfahrungen, die Menschen immer wieder in Situationen des Krieges und der Besatzung gemacht haben. Wo mit Methoden wie gewaltfreiem Widerstand und zivilem Ungehorsam auf die angreifende Gewalt geantwortet wurde, führte die Hälfte zu nachhaltigem Frieden, doppelt so oft wie bei militärischer Verteidigung, so ein Ergebnis der Friedensforschung.
Was bedeutet Nachhaltigkeit in diesem Kontext?
Militärische Aktionen oder Reaktionen finden auf einem hohen Aggressionslevel statt, weil sie massiv zerstörerisch sind – auch Verteidigung ist zerstörerisch. Sie finden auf einem hohen Kompetenzniveau statt, weil sie eine technisch hochversierte Kriegsmaschinerie erfordern. Und sie liegen auf einem finanziell irrsinnig hohen Niveau. Demgegenüber beziehen gewaltfreie Formen des Widerstandes oder der Intervention alle Menschen ein – natürlich auch Spezialist*innen, aber jeder Mensch hat eine wichtige Rolle.
Und wenn Menschen sich als würdig und kompetent erlebt haben, die Deeskalation oder das Ende eines Konfliktes mit bewirkt zu haben, haben sie die Kraft, eine Veränderung auch langfristig mitzutragen. Zudem verbrennen gewaltfreie Aktionen weniger Geld als Waffen – Geld, das dringend sinnvoller gebraucht wird. Es steht uns Kirchen gut an, diese Perspektive offen zu halten und alles dafür Mögliche zu tun!
Church and Peace
Das ökumenische friedenskirchliche Netzwerk Church and Peace bringt christliche Gemeinschaften, Kirchengemeinden, Ausbildungsstätten, Friedensorganisationen und Friedensdienste aus ganz Europa zusammen. Es will ein Ort der Begegnung und ein Forum für Dialog sein. Zurzeit gehören mehr als 50 Gemeinschaften, Gemeinden, Ausbildungsstätten, Friedensdienste, Friedensorganisationen und -komitees sowie um die 60 Personen aus unterschiedlichen Traditionen aus 14 europäischen Ländern zu Church and Peace.