Von Friederike Höhn
Nur ein paar Meter weiter westlich, nur einmal über die Straße. Ein kleiner Schritt, ein großer Unterschied. Wäre die Versöhnungskirche 1892 eben jene zehn Meter weiter, jenseits der Bernauer Straße errichtet worden, so gäbe es sie heute vielleicht noch. Ihre Geschichte gliche der vieler anderer Kirchen aus der Kaiserzeit, die Ende des 19. Jahrhunderts überall in der wachsenden Stadt Berlin gebaut wurden.
Aber sie stand eben genau dort, wo 1945 die Sektorengrenze zwischen französischer und sowjetischer
Besatzungszone gezogen wurde. Dort, wo am 13. August 1961 der Bau der Mauer begann. Mitten auf dem immer weiter ausgebauten Todesstreifen. Im Niemandsland. Ein einsamer Solitär. Am 22. Januar 1985, vor 30 Jahren, wurde das Kirchenschiff gesprengt, wenige Tage später folgte der Turm.
Und doch ging ihre Geschichte weiter, nach dem Fall der Mauer, die auch an der Bernauer Straße in der Nacht vom 9. auf den 10. November überwunden wurde. Das Gelände, auf dem einst Kirche und Pfarrhaus standen, wurde Teil der Gedenkstätte Berliner Mauer, zum authentischen Ort der Vergegenwärtigung der deutschen Teilung – und zum Ort der Versöhnung. Mit der im Jahr 2000 eingeweihten Kapelle der Versöhnung auf den Grundfesten der Versöhnungskirche hat auch die Kirchengemeinde – einst geteilt durch die Mauer – wieder eine Heimat gefunden.
Die besondere Geschichte dieser Kirche und ihrer Gemeinde hat nun Hans-Jürgen Röder noch einmal nachgezeichnet. Er sprach dafür mit etlichen Zeitzeug*innen, etwa mit den Söhnen des letzten Pfarrers der Gesamtgemeinde, Helmuth Hildebrandt, und mit Gerda Neumann, seit über 96 Jahren Mitglied der Gemeinde. Im Fokus stehen die Jahre nach 1945 und insbesondere die Frage, warum die Kirche abgerissen wurde und was es mit dem „Deal“ zwischen Kirche und Staat für ein Gemeindezentrum im Ostberliner Neubauviertel Hohenschönhausen auf sich hatte.
Es wird klar, dass es dafür nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern viele Gründe. Und er lässt auch durchblicken, dass der Abriss des in den 1980er Jahren noch vom Krieg gezeichneten und jahrelang ungenutzten Kirchenbaus – „im Grunde eine Ruine“ – im Rückblick vielleicht auch sein Gutes hatte. Wer heute auf dem Gelände mit Kapelle, Roggenfeld und Garten unterwegs ist, kommt nicht darum herum, sich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinanderzusetzen. So gesehen stand die Versöhnungskirche vielleicht doch am richtigen Ort.
Hans-Jürgen Röder, Versöhnung im Schatten der Mauer. Die Berliner Versöhnungskirche im Kalten Krieg, Ch. Links Verlag, Berlin 2019, 112 Seiten, 15 Euro