Schwestern der Versöhnung
Von John Witcombe,
The Very Revd von Coventry
Am 14. November 1940 wurde die St.-Michaels-Kathedrale in Coventry, zusammen mit einem Großteil der Stadt um sie herum, durch Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe zerstört. Obwohl die Zerstörung dort und der Verlust von Menschenleben später an vielen anderen Orten, insbesondere in Deutschland, noch übertroffen wurde, wurde der „Coventry Blitz“ zum Symbol für die Zerstörung und die Tragödie des Krieges. Coventry ist aber auch zu einem im Vereinigten Königreich einzigartigen Erinnerungsort für den Wiederaufbau der Beziehungen zwischen den ehemaligen Feinden geworden.
Die Gemeinde der Kathedrale und die Stadt Coventry nahmen, zunächst in Kiel, später dann auch in Hamburg, Berlin, Dresden und vielen anderen Städten Kontakt mit den Menschen in Deutschland auf - mit einer Botschaft der Vergebung und einer Einladung zur Versöhnung.
Ich besuchte die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zum ersten Mal im Februar 2013, kurz nachdem ich Dean von Coventry (Domdekan) geworden war. Diese Kirche ist bis in ihr Äußeres hinein wie unsere Schwester in der Versöhnungsarbeit. Wir haben eine ähnliche Architektur und schöne moderne Glasfenster. Hier in Coventry wie in Berlin sind Teile der Ruinen des Krieges erhalten geblieben. Unsere neuen Kirchengebäude wurden 1961 und 1962 mit nur einem Jahr Abstand eingeweiht. Eine Kopie der bewegenden „Stalingrad-Madonna“ steht in Coventry und ein Nagelkreuz in der Gedenkhalle im Alten Turm auf dem Breitscheidplatz. Mein erster Besuch in Berlin hat mich sehr bewegt und ich hatte gehofft, beim Gedenkgottesdienst anlässlich des 80. Jahrestages der Zerstörung Coventrys dabei sein zu können.
Leider hat Covid-19 meine Reise verhindert. Über die Einladung habe ich mich sehr gefreut, sie war überraschend und bewegend für mich. Gerne wäre ich dabei gewesen, wenn in Berlin der Ereignisse gedacht wird, die uns für immer hätten trennen können und die stattdessen zum Anlass für Versöhnung und Freundschaft zwischen unseren Städten und Kirchen geworden sind. Es gibt wenige Orte auf der Welt, an denen sich Menschen bewusst dafür entscheiden, sich an das Leid zu erinnern, das sie anderen zugefügt haben. Das habe ich besonders von unseren deutschen Freunden gelernt.
Unser gemeinsames Zeugnis der Versöhnung ist eine Botschaft der Hoffnung für die Welt. Was auch immer geschieht und in dem Wissen, dass wir alle Vergebung nötig haben, weist diese Botschaft uns den Weg in eine gemeinsame Zukunft. Versöhnung definieren wir so: Versöhnung ist die Reise aus einer gebrochenen Vergangenheit in eine gemeinsame Zukunft. In Coventry setzen wir dazu drei Prioritäten:
die Wunden der Geschichte heilen; lernen, mit Verschiedenheit zu leben und die Vielfalt zu feiern; eine Kultur des Friedens aufbauen.
Die Welt ist heute gespaltener denn je. Die Pandemie ist nicht – wie wir zunächst dachten – eine große Gleichmacherin. Sie enthüllt vielmehr bestehende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten und auch unsere Neigung, als Menschen und Nationen auf der ganzen Welt sehr egoistisch zu denken und zu handeln.
„Brexit“ ist ein Wort, das meine Autokorrektur zwar immer noch nicht erkennt, aber es ist eine sehr gegenwärtige Realität für uns in Europa. Gott verabscheut Rassismus und möchte seine Kinder lernen lassen, als Schwestern und Brüder zusammenzuleben, wer auch immer sie sind.
Unsere Freundschaft und Gemeinschaft ist ein Zeichen für eine andere und bessere Zukunft. Ich freue mich sehr darauf, nach Berlin kommen zu können, sobald die Pandemie es zulässt und wir wieder frei reisen können. Unsere beiden Kirchen in Coventry und Berlin erinnern uns auch daran: Es gibt eine Zukunft, auch wenn die Gegenwart in Trümmern liegt und der Wiederaufbau Monate oder gar Jahre dauern wird. Der kroatische Theologe Miroslav Volf beschreibt Hoffnung als „Liebe, die sich in die Zukunft streckt“. Unsere Liebe füreinander ist genau das – eine in die Zukunft gerichtete Liebe, die wir der Welt anbieten möchten.
„Eure Städte sind mit Feuer verbrannt“ . Gottesdienst im Gedenken an den
80. Jahrestag der Zerstörung Coventrys,
am So, 15. November, 10 Uhr.
Friedensgottesdienst mit Kerzengebet So, 15. November, 18 Uhr.
Jeden Freitag um 13 Uhr Versöhnungsgebet von Coventry. Alle Termine in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Die Wunden bleiben sichtbar
Von Kathrin Oxen,
Pfarrerin der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirchengemeinde in Berlin.
„Das Verbum coventrieren ist versunken, totgeschwiegen von einer Propaganda, die alltäglich das Piraten- und Gangstertum der Feinde vor der Menschheit und dem gerechten Gott im Himmel verfluchte. Und also nicht an eigene Gangstertaten, an den Tag ihrer Kraft erinnern durfte. Das Verbum coventrieren liegt begraben unter dem Schutt deutscher Städte.“
Der jüdische Sprachwissenschaftler Victor Klemperer hat in seiner Abhandlung über die „Lingua Tertii Imperii“, der „Sprache des Dritten Reichs“ dem Verb „coventrieren“ einen eigenen Abschnitt gewidmet. Es ist ein besonders abstoßendes Detail in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dass die deutsche Propaganda meinte, für ihre Luftangriffe auf das Vereinigte Königreich ein eigenes Verb erfinden zu müssen. Und es war die Zerstörung der mittelenglischen Stadt Coventry, die den Anlass dazu gab. In der Nacht vom 14. auf den 15. November 1940 flogen deutsche Bomber einen Angriff, der den zynischen Decknamen „Operation Mondscheinsonate“ bekommen hatte. Über 500 deutsche Bomber warfen die ganze Nacht über ihre Bomben ab. Schon um 20 Uhr stand die Kathedrale St. Michael’s in Flammen.
Der damalige Dompropst Richard Howard versuchte selbst noch, dort Brände mit Sand zu löschen, musste aber wegen der andauernden Bombardierung bald aufgeben. Als einzige Kathedrale im ganzen Königreich wurde die aus dem 14. Jahrhundert stammende St.-Michael’s-Kathedrale völlig zerstört.
Aus den ausgeglühten Nägeln der Dachkonstruktion formte man wenig später ein Kreuz. Als Symbol der ökumenischen Nagelkreuzgemeinschaft wurde das „Nagelkreuz“ berühmt.
Beim Coventry-Gebet an jedem Freitagmittag in der Gedächtniskirche erzähle ich die Geschichte des Nagelkreuzes. Seit 1988 hat es seinen Platz in der Gedenkhalle im Alten Turm gefunden. Und ich kann erzählen, dass fast genau drei Jahre später, im November 1943, die Gedächtniskirche von englischen Bombern zerstört worden ist. Und dann bin ich jedes Mal froh, dass ich noch mehr erzählen kann. Dass der englische Angriff auf Berlin nicht nur die Vergeltung für den deutschen Angriff auf Coventry und andere Städte geblieben ist, sondern dass daraus eine bewegende und einzigartige Geschichte echter Versöhnung wurde. Ich komme im Erzählen dieser Geschichte dem Geheimnis der Versöhnung auf die Spur. Versöhnung ist nicht die Stille nach dem „wie du mir, so ich dir“. Versöhnung bedeutet auch nicht, das, was gewesen ist, unter den Teppich zu kehren und zu hoffen, dass es sich mit der Zeit festtritt.
Die Wunden des Krieges sind nach 80 Jahren in Coventry und in Berlin geheilt, im Gesicht der Städte und auch durch den Neubau der beiden zerstörten Gotteshäuser. In einzigartiger Weise bleiben aber in Coventry und in Berlin die Wunden der Vergangenheit sichtbar. Anders als in anderen Konzepten des Wiederaufbaus, wie etwa bei der Frauenkirche in Dresden oder auch der Garnisonkirche in Potsdam, ist die gebrochene Vergangenheit hier auch baulich noch zu sehen.
Es ist die sichtbare, sogar anfassbare Erinnerung an die „Gangstertaten“ der deutschen Geschichte genauso wie die Erinnerung daran, dass jede Art von Vergeltung nur weitere Zerstörung bedeuten kann. Die Kirchen in Coventry und Berlin bilden eine Leidens- und eine Hoffnungsgemeinschaft. Sie sind Schwestern, die das gleiche erlebt haben, die mit den gleichen Gefühlen von Ohnmacht und Wut, Scham und Verzweiflung umgehen müssen.
Richard Howard, der Dompropst von Coventry, konnte die echten Brände in der Kathedrale nicht löschen. Aber sein Engagement für Versöhnung hat zuverlässig und dauerhaft den Brand gelöscht, der in Menschenherzen nur allzu leicht zu entfachen ist: Hass und Vergeltung. „Die Kathedrale wird auferstehen, sie wird wiederaufgebaut werden und sie wird der Stolz der zukünftigen Generationen sein so wie sie der Stolz vergangener Generationen war.“ Sagte er schon kurz nach dem Angriff von 1940. Er hat recht behalten.
Versöhnung ist und bleibt eine Aufgabe für Generationen. Die Wunden der Vergangenheit heilen, aber sie bleiben sichtbar. Das haben wir in Coventry und in Berlin erlebt. Wir geben es weiter an die, die nach uns kommen.