Predigttext am Sonntag Sexagesimä: Hebräer 4,12–13
Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.
Von Eckart Wragge
Der Hebräerbrief wurde als „eine zeitlose Gedankenbewegung“, wie es Theologieprofessor Werner Georg Kümmel nannte, zwischen 80 und 90 nach Christus an das wandernde Gottesvolk gerichtet. Mich interessiert besonders, was es mit dem „zweischneidigen Schwert“ auf sich hat. Das Schwert sei schärfer als jede doppelt geschliffene Klinge. Es ist also besonders scharf! Es unterscheidet zwischen der einen und der anderen Seite der Klinge. Es lässt das Abgetrennte zurück und richtet den Blick nach vorn. Es differenziert.
Wir unterscheiden zwischen dem, was wir ändern können und dem, was wir nicht ändern können. Der Theologieprofessor Arne Manzeschke sprach kürzlich von unseren „Kränkungen“. Er nannte mehrere Beispiele. Holen uns die naturwissenschaftlichen Fakten ein? Herrscht „die normative Kraft des Faktischen“ oder das „lebendige und kräftige Wort Gottes“?
Eine Kränkung geht auf Charles Darwin zurück: unsere Verwandtschaft mit den Tieren. Auch andere Wesen besitzen Hände und fünf Finger an jeder Hand! Ich fühle mich unwohl bei dem Gedanken. Ist der homo sapiens nicht einmalig, konkurrenzlos, wunderbar? Nein! Er hat sich aus der Tierwelt „höher entwickelt“. Langsam arbeitet der „Haken“ der Evolution. Sie entwickelte uns Menschen und macht weiter.
Und das „lebendige und kräftige Wort Gottes“? Die Verwandtschaft mit Schimpansen mag ich nicht! Sie verletzt mich. Sie beleidigt mich bei aller Tierliebe. Kann denn nichts die Entwicklung aufhalten? Müssen wir uns damit abfinden? Oder können wir mit dem Wort Gottes „dazwischen schlagen“? Hat unser Geist eine Chance gegen die Übermacht naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, gegen die „normative Kraft des Faktischen“?
Kränkt Sie etwa nicht, was uns Sigmund Freud lehrt? Er sagt, wir seien „nicht Herr im eigenen Haus“, sondern ein Spielball unserer Neigungen, Gefühle und Leidenschaften. Das kränkt mich. Das nimmt mir die Würde, den Glauben, alles beherrschen zu können, auch mich selbst. Mich kränkt die sogenannte künstliche Intelligenz (KI). Eine Maschine kann besser Schach spielen als der beste Schachspieler der Welt! Das tut mir weh. Ich hatte immer alles in der Hand. Doch nun bin ich nicht mehr Spitze. Ich verliere die Leitung. Dunkle Mächte haben das Sagen.
Ich lege nach der „zeitlosen Gedankenbewegung“ des Hebräerbriefs eine Mußestunde ein. „Es ist noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes“ (Hebräer 4,9) … Ich beginne zu träumen: Wie wird unsere Zukunft aussehen?
Ich differenziere zwischen Natur und Geist. Welche Rolle werden die Geisteswissenschaften haben? Ich bewundere, wie unser blauer Planet die Sonne umkreist. Ich lese ein Buch. Ich lese ein Gedicht. Ich höre Musik. Ich nehme meine Lieben, auch Pflanzen und Tiere in mein Gebet, welches das Unmögliche für möglich hält.
Mögen uns die Kränkungen kränken. Mag die „normative Kraft des Faktischen“ ihren Platz in unserem Leben haben. Aber im Regiment sitzt das „lebendige und kräftige Wort Gottes“!
Eckart Wragge ist Pfarrer im Ruhestand in Berlin.