Von Christine Xuân Müller (epd)
Wo Ben ist, sind Bäume: So verknappt könnte man das Schaffen eines Künstlers beschreiben, der seit Ende des Zweiten Weltkrieges in Berlin nachhaltige Spuren hinterlassen hat: Hunderte Bäume hat er in der Stadt gepflanzt. Am bekanntesten ist das von ihm initiierte "Parlament der Bäume" mitten auf dem früheren Todesstreifen. Der Baumpate ist aber auch als Galerist, Bildhauer, Bühnenbauer und Aktivist bekannt. In diesen Tagen – irgendwann zwischen dem 21. und dem 25. März 2020 – wird Ben Wagin 90 Jahre alt.
Ein genaues Geburtsdatum ist nach dem Willen des Künstlers nicht bekannt. Der Tag des Frühlingsanfangs würde Ben Wagin aber selbst sehr gefallen. Eine andere seiner Eigenwilligkeiten ist, dass er konsequent jeden duzt – egal ob er mit einem Künstlerfreund oder einer Bundeskanzlerin redet. Auch eine mitunter deftige Ausdrucksweise gehört zu seinen Markenzeichen.
In ganz Europa hat Ben Wagin seit Mitte der 1960er Jahre Zehntausende vor allem Apfel- und Ginkgobäume gepflanzt. Fast immer waren die Baumpflanzungen eine Mischung aus Kunstaktion und politischer Performance. Er gewann dabei prominente Unterstützer wie Willy Brandt, Klaus Töpfer oder Joachim Gauck für seine Aktionen.
Ansteckende Lebensfreude und Anhänglichkeit
Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) würdigt den Jubilar als leidenschaftlichen "Aktionskünstler, Umwelt- und Friedensaktivisten". "Ben Wagin gelingt es mit einer einzigartigen Mischung aus Charme, Begeisterung und Hartnäckigkeit, das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Natur kritisch zu beleuchten", sagte Grütters dem Evangelischen Pressedienst (epd). Viele seiner Aktionen seien nicht nur Aufrufe zum rücksichtsvollen Umgang mit der Natur, sondern Appelle für Frieden und Versöhnung: "Seine zähe und unerschütterliche Lebensfreude und seine unkonventionelle Anhänglichkeit sind ansteckend."
Wer die Wohnung und gleichzeitig das Atelier Ben Wagins in Berlin-Tiergarten betritt, ist überwältigt von deckenhohen Regalen – sie sind gefüllt mit Pflanzen, Skulpturen, Wurzeln, Muscheln, Malereien, Samen, Kompost, Zeitschriften, Tee-Resten, Kollagen, Nussschalen und wieder neuen frischen Trieben einer kleinen grünen Pflanze. Doch was auf den ersten Blick wie Chaos anmutet, entpuppt sich als purer Ausdruck seines künstlerischen Selbstverständnisses. Man könnte sagen, da liegen jede Menge Ideen rum. Und alle drehen sich um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur.
Wagin wurde Ende März 1930 in der polnischen Kleinstadt Jastrow geboren. Sein Großvater nahm den kleinen Jungen häufig mit in den Wald, um Beeren, Tannenzapfen oder Holz zu sammeln. Der Ältere lehrte den Jüngeren dabei, wie verletzlich Bäume einerseits sind und wie sie andererseits dem Menschen Schutz bieten. "Ich habe die Komplexität unserer Beziehung sehr früh erahnt, diese Vielschichtigkeit des Gebens und Nehmens", erklärt Wagin in seiner Autobiografie.
Erste Baumpflanzung 1967 vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
Darin beschreibt er auch, dass er früh heimatlos wurde. Seit 1945 habe er seine Spuren über andere Orte verteilt, darunter Bremen, Hannover, Frankfurt, München, Bonn oder Düsseldorf. Seine Wahlheimat aber wurde Berlin, wo er seit 1957 lebt. "Die Stadt hatte eine große Sogwirkung auf mich", erklärt der Künstler: "Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass Berlin eine so riesige Narbe hatte." Die Mauer blieb ebenso wie die Bäume eines der Themen, die ihn immer wieder umtrieben.
Seine erste Baumpflanzung in Berlin initiiert Ben Wagin 1967 vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. 1975 entsteht unter seiner Leitung der "Weltenbaum", das erste große Wandbild Berlins. 1988 pflanzt er Bäume in der DDR vor der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. 1990 beginnt er, den einstigen Todesstreifen nahe dem Reichstag mit Bäumen zu bepflanzen und ein Mauermahnmal zu gestalten, das "Parlament der Bäume". Eines seiner Bücher trägt den Untertitel "Der Baum bist Du - sind Wir".
Vor allem das "Parlament der Bäume" sorgte in den vergangenen Jahren immer wieder für öffentliche Debatten. Die Anlage besteht aus 58 originalen Mauersegmenten, Granitplatten mit den Namen von Maueropfern, Texten, Gemälden, Blumenbeeten und über 100 Bäumen, die von Politikern oder anderen Prominenten gepflanzt wurden. Lange Zeit war der Fortbestand unklar. Seit 2017 steht das "Parlament der Bäume" im Regierungsviertel unter Denkmalschutz, seit Anfang 2020 gehört das Mahnmal dem Land Berlin.
"'Das Parlament der Bäume' ist ein lebendiges Wesen. Eine Erinnerung an einer Stelle, wo es das Sterben gegeben hat", sagt Wagin. Zugleich stehe es sinnbildlich für die Vielfalt: "Es herrscht also eine friedliche Konkurrenz, denn man ist aufeinander angewiesen. Jeder braucht den anderen, keiner kann allein überleben."
"Ben Wagin ist ein Ausnahmekünstler, der eigentlich ja nie älter geworden ist", würdigt ihn Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke). "Seine Arbeiten und seine Initiativen, die er anstößt, wie das 'Parlament der Bäume', all das zeugt von einem unruhigen, kreativen Geist, der nie aufhört sich einzumischen."