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Der Blick auf die Erinnerung

Zum 130. Geburtstag von Martin Niemöller machen sich Katja von Damaros und Magdalena Scharf, Vorstandsmitglieder des Trägervereins Martin-Niemöller-Haus in Berlin, Gedanken um die Zukunft evangelischer Erinnerungsarbeit und warum diese diversitätsbewusst gestaltet werden muss. Ein Gastbeitrag

Foto: Jürgen Sandel

Von Katja von Damaros und Magdalena Scharf

Am 14. Januar wäre Martin Niemöller 130 Jahre alt geworden. Von 1931 bis zu seiner Verhaftung 1937 wirkte der streitbare Theologe im Pfarrhaus der Gemeinde Berlin-Dahlem, dem heutigen Lern- und Erinnerungsort Martin-Niemöller-Haus in der Pacelliallee 61. Die aktuelle Debatte um die Umbenennung von Straßen in Berlin mit antisemitischen Namensgebern betrifft auch Niemöller. 

Die Diskussion zeigt, dass Erinnern nicht statisch ist, sondern sich aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse oder gesellschaftlicher Veränderungen dynamisch entwickelt. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist nie abgeschlossen. An wen und wie wir erinnern, bleibt eine herausfordernde Frage. 

Das Martin-Niemöller-Haus stellt sich dieser Aufgabe durch eine in Zusammenarbeit mit der Landeskirche (EKBO) sowie der Gedenkstätte Deutscher Widerstand entstandene Ausstellung, durch ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm und interessante Bildungsangebote. Ein vom Bundesprogramm „Demokratie leben“ gefördertes fünfjähriges Modell-Projekt widmet sich der hochaktuellen Frage, wie Migrant*innen Teil dieses Erinnerns werden können und wie sich die Erinnerungskultur in einer zunehmend diversen Gesellschaft verändern muss.

Die Diskussionslinien haben sich verschoben


Als das Martin-Niemöller-Haus Anfang der 1980er Jahre eröffnet wurde, trafen sich hier Menschen, die aktiv für eine Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit eintraten. Sie stießen mit ihrem Engagement oftmals noch auf politische und gesellschaftliche Vorbehalte. Heute, vierzig Jahre später, haben sich die Diskussionslinien verschoben. Das Eingeständnis deutscher Schuld und die Erinnerung an die NS-Verbrechen ist mittlerweile ein zentrales, Identität und Zuge­hörigkeit vermittelndes Narrativ unserer Gesellschaft.

Die Kirchengemeinde Dahlem hat die Erinnerungsarbeit in dem historisch so wichtigen Haus in den letzten Jahren intensiv weiterentwickelt. Noch während einer umfangreichen Sanierung des Gebäudes hat die Gemeinde Ende 2018 die Gründung eines Vereins initiiert. Der Verein Martin-Niemöller-Haus Berlin-Dahlem e.V. hält die Erinnerung an den christlich motivierten Widerstand, aber auch an das Versagen von Christ*innen und Kirche in der NS-Zeit wach und macht beides für aktuelle gesellschaftliche Debatten fruchtbar. 

Angebote gemeinsam weiterentwickeln


Ganz zentral ist dabei das Engagement vieler Ehrenamtlicher, die ihre Zeit und Kompetenz einbringen, beispielsweise um das Haus offen zu halten und um Gäste aus Nah und Fern, junge und ältere, mit Vorkenntnissen oder ohne, durch die Ausstellung zu führen. Gemeinsam werden die Angebote weiterent­wickelt. Biografische Lesungen und Gespräche zu Dahlemer Akteuren wie Niemöller, Franz von Hammerstein oder Elisabeth Schiemann wecken ebenso öffentliches Interesse wie Veranstaltungen etwa zu den Novemberpogromen oder der Stuttgarter Schulderklärung. 

Mit Themenschwerpunkten zum Beispiel zu Flucht, Migration und Kirchenasyl, zum Zustand unserer Demokratie oder zu den gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie entwickelt sich ein Profil des Hauses. Professionelle Unterstützung bietet der Historiker Arno Helwig, der als Leiter des Lern- und Erinnerungsortes das Haus in Kirche, Kommune und Zivilgesellschaft vernetzt und positioniert. Großzügige Spenden und Drittmittel machen diese Arbeit möglich. 

Trotz einiger Schwierigkeiten hat die Corona-Pandemie die Arbeit des jungen Vereins nicht ausgebremst. Dank einer steilen digitalen Lernkurve und der finanziellen Förderung der nötigen Technik sind Online-Formate heute möglich und werden gut angenommen.

Mit dem durch das Bundesfamilienministerium geförderte Modell-Projekt „Aus deiner Sicht! Evange­lische Erinnerungskultur diversitätsbewusst gestalten“ geht der Verein einen innovativen und zukunfts­gerichteten Weg, um mit dem kritischen Blick der historischen Forschung auf Antisemitismus in der Bekennenden Kirche einzugehen und die dynamischen Entwicklungen in der Erinnerungskultur aufzugreifen. 

Evangelische Erinnerungsorte der Vielfalt öffnen


Die überregionale Relevanz dieses Ansatzes kommt auch durch die Projektpartner zum Ausdruck: unsere Landeskirche, die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) sowie die Evangelische Hochschule Berlin. Ziel ist es, Konzeption und praktische Arbeit evangelischer Erinnerungsorte für die Perspektiven einer vielfältigen Gesellschaft zu öffnen und damit zu verändern. Auch die Geschichte der Bekennenden Kirche in Berlin-Dahlem kann auf unterschiedliche Weise erzählt werden. Die bisherige Präsentation im Martin-Niemöller-Haus ist nur eine Deutung des Vergangenen. 

In unserem Land leben rund 16 Millionen Bürger*innen mit einer „Zuwanderungsgeschichte“. Zunehmende kulturelle und religiöse Vielfalt gehören zum Alltag einer Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher Herkunft, Haltung und Lebensgeschichte zusammenleben. Diese Geschichten, häufig geprägt durch eigene Diskriminierungserfahrungen, gehören zur „deutschen“ Geschichte dazu. Die Erinnerung an das NS-Unrecht muss diesen Perspektiven Raum geben, um prägender Teil unserer Identität und Quelle für Zivilcourage zu bleiben. 

Dokumentation in Einfacher Sprache


Erste Ergebnisse des Projektes sind in der neuen Dokumentation der Ausstellung im Martin-Niemöller-Haus nachzulesen. Es gibt sie in deutscher und englischer Sprache. Am 15. März 2022 stellt der Verein eine Übersetzung in Einfacher Sprache vor, die die Thematik für Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder geringen Deutschkenntnissen zugänglich macht. 

Eine Broschüre mit „Bausteinen“ einer diversitätssensiblen Erinnerungskultur gibt Einblicke in den Entwicklungsprozess und wird im Frühjahr 2022 veröffentlicht. Eine Onlineplattform stellt praktische Handreichungen für Interessierte und Multiplikator*innen anderer Lern- und Erinnerungsorte zur Verfügung. 

Das Augenmerk der pädagogischen Arbeit liegt auf den Interessen junger Menschen. Das Sterben der Zeitzeug*innengeneration führt uns die zeitliche Distanz zur NS-Geschichte vor Augen – und die Notwendigkeit attraktive Angebote zu gestalten, die auch die jüngere Generation ansprechen. Im Projekt „Aus deiner Sicht“ entwickelt und erprobt der Verein eine pädagogische Peer-to-Peer-Arbeit mit den Jugendlichen, die ein zeitgemäßes, auch digitales Miteinander- und Voneinanderlernen ermöglicht.

Engagement wichtiger denn je


Zunehmender Antisemitismus und Rechtspopulismus zeigen deutlich, dass der gesellschaftliche Konsens zur Erinnerung an die NS-Verbrechen brüchig zu werden droht. Das kirchliche und zivilgesellschaftliche Engagement, gerade an den vielen basisnahen, gemeindlich verankerten, dezentralen evangelischen Erinnerungsorten wie dem Martin-Niemöller-Haus ist mehr denn je notwendig. 

Mit dem Martin-Niemöller-Haus Berlin-Dahlem e.V. ist in den letzten drei Jahren durch die kontinuier­liche Arbeit des Leiters des Hauses in Zusammenarbeit mit zahlreichen Ehrenamtlichen ein neuer Akteur in der Erinnerungslandschaft Berlins entstanden, der in Gemeinde, Kirchenkreis und Landeskirche verankert ist und seine Wirkung weit über Dahlem hinaus entfaltet. Mit der diversitätsbewussten und diskriminierungssensiblen Weiterentwicklung der eigenen Geschichtserzählung stellt er einen Ansatz für eine zeitgemäße evangelische Erinnerungskultur zur Debatte.

Der Besuch des Martin-Niemöller-Hauses und der Ausstellung in Berlin-Dahlem ist nach Voranmeldung und unter den jeweils aktuellen Auflagen (2G-Plus) möglich. E-Mail: info@mnh-dahlem.de oder Telefon: (030)233278310 

Zum Weiterlesen:
Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition, Benjamin Ziemann, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019, 640 Seiten, 39 Euro

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1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

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