Von Nora Rämer
Als mein Spiegelbild sich auflöste, war es unausweichlich: Mein Sehvermögen ging verloren und damit mein gewohntes Leben: der Beruf, Nachsehen der Hausaufgaben, in den Gesichtern lesen, Notizen machen und das Vertrauen in mich selbst. Bevor die Angst sich ganz einnisten konnte, gab es die Gegenwehr: von einer guten Freundin, den Kindern, meinem Mann und zuletzt – Gott sei es gedankt – endlich auch von mir selbst.
„Was willst Du, dass ich dir tue?“ fragt Jesus den Blinden (Lukas 18,41). Ich wollte wieder Lesen und Schreiben können, einen Beruf haben, selbstständig von einem Ort zum andern gehen, mich nicht als behindert fühlen.
Sehbehindertensonntag, was für ein Titel für einen bundesweiten Aktionsmonat vom 1. bis zum 30. Juni 2022! Jesus hat niemals von Behinderten gesprochen, sondern von gesellschaftlich Ausgegrenzten. Ich bin inzwischen Pfarrerin in der Evangelischen Dreieinigkeitsgemeinde in Berlin, eine Gemeinde, die seit mehr als 15 Jahren auf dem Weg ist, gemeindliches Leben inklusiv zu gestalten. Zuerst waren die Ängste und Zweifel auf beiden Seiten da: Wie geht das Miteinander, ist das zu schaffen, was ist mit den zahlreichen Aufgaben, die man-frau im Blick haben muss: Unterschriften, Dokumente und pfarramtliche Aufgaben? Erste Erfahrungen machten aus dem Versuch ein Suchen nach dem möglichen Miteinander.
„Was willst du, dass ich für dich tue?“ Die Frage Jesu ist die wichtigste im gegenseitigen Lernen und Anvertrauen. Nicht nur ich vertraue mich den Menschen in meiner Gemeinde an, sondern meine Gemeinde vertraut sich mit ihren vielen Aufgabenfeldern auch mir an: in seelsorgerlichen Gesprächen, in Trauerfeiern, Gottesdiensten und Gemeindesitzungen, wenn ich ihre Kinder taufe und ihre Jugendlichen auf den Weg zur Konfirmation begleite sowie auf Reisen und Festen. Ich vertraue denen, die mich begleiten, dass sie umsichtig den Weg im Blick haben und meine Augen sind, den Kolleg*innen und Mitarbeitenden, dass wir gemeinsam sehen, was getan und geplant werden muss.
„Wer nicht sieht, muss gesehen werden“, hieß die erste online-Veranstaltung im Rahmen des Sehbehindertenmonats am 2. Juni. Es ging um die Sensibilisierung im Umgang mit Sehbehinderungen: Wie wird ein Mensch mit einer Seheinschränkung zum Behinderten und wer behindert wen?
„Wir sehen letztlich nur mit dem Herzen gut“ heißt es im „Kleinen Prinzen“. Im gegenseitigen Anvertrauen erfahren nicht nur die Menschen mit Handicap Teilhabe. Ein neues Sehen weitet uns allen den Blick, macht sichtbar, was Vertrauen mit Zutrauen zu tun hat. „Was traust du mir zu, dass ich für dich tue“ könnte Jesus gefragt haben.
Nora Rämer ist Pfarrerin in der Dreieinigkeitsgemeinde in Berlin-Neukölln