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Die Wunde vernarbt

Schmerzlich lang waren die drei Jahrzehnte, in denen sich seine Stadt auseinandergelebt hat, sagt Thomas Jeutner. Dankbarkeit und Freude erfüllen den Berliner Pfarrer, wenn er den heute ­grünenden und belebten Mauerstreifen durchwandert.

Mauerstreifen Jeutner
Vor zwei Jahren entdeckte ein Heimatforscher in einem Waldstück ein Stück Berliner Mauer (Foto) wieder. Das Landesdenkmalamt leitete daraufhin die Unterschutzstellung des Mauerabschnittes am Berliner S-Bahnhof Schönholz ein. Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) sprach von einem einzigartigen historischen Dokument der Teilung der Stadt. Bei dem Fund handelt es sich um eine alte Ziegelmauer, die im Zuge der Spaltung von Ost- und West-Berlin als Teil der Berliner Mauer verwendet und gesichert wurde. Foto: Rolf Zöllner/epd

Von Thomas Jeutner

Es ist ein sonniger Tag im Oktober, einer der wenigen, an dem ich noch einmal Wärme und Licht speichern kann. Nun färben sich schon zum 30. Mal die Blätter bunt, seit dem Herbst, in dem 1990 die Deutsche Einheit besiegelt wurde. Ich war damals 30, und habe als junger Ost-Berliner gestaunt, wie schnell über Nacht in der Hauptstadt der DDR die Schilder der staatlichen Behörden ausgetauscht wurden. Das Land, in dem ich groß geworden bin, war untergegangen. Heute bin ich 60. Und freue mich, in der großen, wieder zueinandergefundenen Stadt, mir noch unbekannte Ecken und Wege zu finden. Meistens nehme ich mir das nicht vor, sondern steige einfach aus der S-Bahn, wenn ich spontan Neugier bekomme auf ein Stück unbekannte Berliner Gegend. 

So ging es mir mit dem S-Bahnhof Schönholz. Immer schon, im eiligen Vorbeifahren mit der Bahn, war mir der breite grüne Streifen aufgefallen. In diesem verwunschenen Stück vom Berliner Norden war ich noch nie. 

Ich habe mein Rad mit aus der S-Bahn genommen und staune, wie es hier aussieht, auf dem ehemaligen Mauerstreifen zwischen dem S-Bahnhof Schönholz und Wilhelmsruh, der seit einigen Jahren eine Verwandlung ­erlebte: Aus der Grenzbrache des ­Kalten Krieges wurde ein Biotop. Aus dem kilometerlangen Abschnitt im ehemaligen Todesstreifen ist ein Er­holungsort geworden. Menschen sonnen sich hier genauso wie die Zauneidechsen. 

Es sind viele Spaziergänger*innen unterwegs. Es ist ihnen anzumerken, wie sie den weiten Raum genießen, der sich hier vor ihnen ausbreitet, inmitten der Stadt. Aus der ehemaligen Postentrasse der DDR-Grenze, früher ausgelegt mit groben Betonbohlen, ist ein superglatter Weg geworden. Jugend­liche fahren hier Skateboard, manche Erwachsene Inliner. Kinder lernen Radfahren. Mütter schieben einen Kinderwagen entlang. Ich sehe Leute, die versunken auf Bänken sitzen und in die Sonne blinzeln. Jemand liest ein Buch. Die Fußgänger*innen sind international, ich höre verschiedene Sprachen. Es sind keine Touristinnen und Touristen. Sondern Anwohner*innen, aus Wedding und Pankow und Reinickendorf. Während sich rechts vom Weg die Grundstücke einer Garten­kolonie ausbreiten, finden sich links alte, überwucherte Gleise. An den Bäumen sind Nistkästen für Vögel an­gebracht. Zu hören ist ganz entfernt nur die S-Bahn nach Frohnau. Dann ist es still. Aber es gibt auch Bewegung. Beides. Ist das der Frieden, von dem wir immer geträumt haben? 

Heute eine Schutzzone für Mensch und Tier

Bevor ich herausfahre aus diesem Märchenland, lese ich die Informationstafel am Weg. Und erfahre, dass hier am Rande des alten Mauerstreifens wirklich Zauneidechsen angesiedelt werden. Man könnte sie also auch „Mauer-Eidechsen“ nennen. Um den Tieren Ruhe zu geben, wurde der vom Weg abgelegene Bereich als Schutz-Zone ausgewiesen. Es ist ein Habitat, lese ich, auch für den Trockenrasen. Erst nach zwei Jahren soll diese Stelle wieder betretbar sein. 

Ich bin einverstanden. Zwei Jahre für diese Natur-Zone sind nicht lang. Schmerzlich lang waren die drei Jahrzehnte, in denen sich unsere Stadt auseinandergelebt hat. Das Zusammenwachsen, auch in den drei Jahrzehnten Deutscher Einheit, braucht Zeit. Für die Vernarbung von Wunden, in den Biografien unserer Familien. Selbst topo­grafische Stadtnarben verheilen nur langsam. Wie hier in Schönholz. Wo die Natur erst zögernd zurück­gekehrt ist, mit den zarten Zeilen von Birken im märkischen Sand. Es ist, als wenn ein Stück Brandenburger Wald zurückkehrt, in die Stadt. 

Kam die Deutsche Einheit zur rechten Zeit?

Die Wunde vernarbt. Sie wird überwachsen. Ich empfinde Dankbarkeit, wenn ich auf diese Zeit schaue. Gott ist es, der die recht Zeit gibt, sagt der Dichter im Psalm 145,15: „Aller Augen warten auf dich, Gott, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit.“ Es ist der Spruch für den ersten Sonntag im Oktober, an dem in den Kirchen das Erntedankfest gefeiert wird. Ich frage mich, ob es heute „die recht Zeit“ ist? Oder war es 1990, als sehr rasch die Deutsche Einheit verhandelt wurde, die „recht Zeit“? Wie viele Menschen haben sehnlich auf die Öffnung der Mauer gewartet. Und sind doch vorher gestorben. 

Geschenktes Stück Stadt

Ich merke in mir eine Bewegung des Herzens: einen Geschmack von Glück. Dass mir diese Zeit geschenkt ist und ich dieses Stück Stadt sehen kann, das für uns abgesperrt war. Ich lausche der Freude nach, ganz in Ruhe diesen Streifen durchwandern zu dürfen. Zu Freunden bin ich unterwegs, wir werden uns zum Reden treffen. Leute aus dem alten Osten und aus dem alten Westen. Jedes Mal merken wir, dass die Geschichten noch nicht auserzählt sind. 

Im rbb-Podcast „Gedanken“ des Evan­gelischen Rundfunkdienstes wurde dieser Text von Pfarrer Thomas Jeutner am 4. Oktober gesendet. Nachzuhören unter https://www.ardaudiothek.de/gedanken/58920408

Thomas Jeutner ist Pfarrer der Berliner Versöhnungsgemeinde. Deren Kapelle liegt auch im ehemaligen Mauerstreifen an der Bernauer Straße in Berlin-Mitte.

Berliner Nordbahn
Der S-Bahnhof Schönholz

Schönholz liegt im Westen des Berliner Ortsteils Niederschönhausen im Bezirk Pankow. Am Ende des 19. Jahrhunderts war Schönholz einer der beliebten Ausflugsorte für die Berliner*innen. Am 10. Juli 1877 ging der Bahnhof Schönholz – damals als Reinickendorf – mit der Eröffnung der Nordbahn in Betrieb. Der Kalte Krieg sorgte für eine langjährige Veränderung: am ­östlichen Ende des Bahndammes beziehungsweise der vor dem Bahnhof verlaufenden Provinzstraße befand sich alsbald die Sektorengrenze ­zwischen Ost- und West-Berlin. Mit dem 13. August 1961 wurde diese fest zementiert: die ­Berliner Mauer entstand. Seitdem war der S-Bahnhof Schönholz für DDR-­Bürger*innen nicht mehr zugänglich. Er lag im West-Berliner Bezirk Reinickendorf. Teile der Garten- und Siedlungskolonien entlang des Waldweges, aber auch Wohngrundstücke entlang der Richtung Westen verlaufenden Straßen ­befanden sich im „Sperrgebiet“. Dort Wohnende durften Besuche nur mit ­besonderer Genehmigung empfangen. Die Grundstücke auf dem Gebiet des Grenzstreifens wurden zum Zwecke des Mauerbaus enteignet. (dk)

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1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

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