Von Marion Gardei
„Es ist wunderbar, das erste Mal seit so vielen Jahren einmal allein zu sein. Ich sehe mir den See an und den Himmel, und ich bin trunken vor Freiheit.“ So beschreibt eine gerade befreite Frau aus dem KZ Ravensbrück ihren ersten Spaziergang. Aber die Freude ist gedämpft durch die Erinnerung an das Grauen: „Die Schrecken der vergangenen Jahre fallen über mich her. Es drängt mich darüber zu sprechen. Aber wen interessiert das schon. Wenn ich an die Toten denke, packt mich ein würgendes Schuldgefühl. Warum durfte ich überleben und sie mussten sterben.“
Das Ende des Nazireiches wurde von Anfang an bei der deutschen Bevölkerung unterschiedlich wahrgenommen: Während die Täter und Helfer des NS-Regimes wenig Scham zeigten und schnell wieder in ihre berufliche Positionen zurückkehren konnten, litten die „Displaced Persons“ an Überlebensschuld und wurden nicht selten als Verräter betrachtet. Obwohl das Ende der Kriegshandlungen am 8. Mai von den meisten mit Erleichterung erlebt wurde, dominieren Hunger, Mangel und Existenzangst das Lebensgefühl.
Der Mythos von der „Stunde Null“
Die Formulierung von der angeblichen „Stunde Null“ suggeriert den Neustart eines Deutschlands, das nichts mitzunehmen und nichts zu verarbeiten habe. Die Geschichte zeigt das Gegenteil: Seit 1945 gab und gibt es eine erinnerungskulturelle Entwicklung, die ablesbar ist an der Art und Weise, wie an den 8. Mai gedacht wird. Kirchliches Gedenken ist dabei Teil der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und spiegelt
zumeist deren Sichtweise: Der kirchliche Blick auf Kriegsende und Naziterror ist abhängig von der gesellschaftspolitischen Entwicklung seit der Nachkriegszeit, die sich im Westen in verschiedene Abschnitte einteilen lässt.