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Euthanasieopfer bekommen einen Gedenkort

2500 Menschen zu Tode behandelt

Friedhof auf ehemaligem Anstaltsgelände

Zu Tode behandelt

Am südlichen Rand der ehemaligen „Karl-Bonhoeffer-Nerven­klinik“ in Berlin-Wittenau soll

wieder an die 2500 Menschen erinnert werden, die hier von den Nazis als „lebensunwert“

ermordet wurden. Die Grünbrache wird zum Gedenkort „Anstaltsfriedhof“

Von Uli Schulte Döinghaus

Mindestens vier Steinformate, zu erkennen an unterschiedlichen Färbungen und Verwitterungsformen, haben die Berliner Steinmetze Martin Lange und Martina Breuer im mannshohen Mauerwerk ausgemacht. Einige sind jüngeren Datums, vielleicht 50 Jahre alt, andere folgen den Maßen des sogenannten „Reichsformates für Steine“ und sind älter, vielleicht 80 oder 90 Jahre alt.

Das Mauerwerk wäre eigentlich der Rede nicht wert, gehörte es nicht zum Eingang eines aufgelassenen Friedhofs, dem Alten Anstaltsfriedhof auf dem Gelände der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin-Reinickendorf, der nun zu einer Erinnerungsstätte mit Gedenkstelen und Informationstafeln werden soll. Denn dieser Ort war einst Friedhof für mindestens 2500 Menschen, die von den Nazis umgebracht wurden.

Lange und Breuer machen sich zurzeit daran, die Mauer, teils Backstein, teils Sandstein, standfest und präsentabel zu machen. Abdeckplatten und bröckelige Steine müssen ersetzt werden. „Das war alles mit Efeu bewachsen“, sagt Martina Breuer, während ihr Kollege die Konsistenz der Steine mit Faust und Fingern prüft. Kreuze sind als christliche Symbolik in den Vertiefungen zu erkennen, die in den Eingangsmauern eingespart sind. Aber christlich ging es hier in der Zeit von 1933 bis 1945 nicht zu. Denn der Friedhof spiegelt die bittere Geschichte der Institution wider, die während der Nazizeit den zynischen und beschönigenden Titel „Wittenauer Heilstätten“ führte.

Sterben in den Heilstätten

Wittenau ist ein Ortsteil im Berliner Bezirk Reinickendorf. „Zwischen 1933 und 1945 starben in den Wittenauer Heilstätten 4607 Patienten (laut Sterberegister der Wittenauer Heilstätten), von denen rund 50 Prozent auf dem Anstaltsfriedhof bestattet wurden“, ist in einer Zeittafel zu lesen, die der „Freundeskreis Gedenkort Alter Anstaltsfriedhof“ erstellt hat. Er wird – engagiert und ehrenamtlich – geleitet von Winfried Band und Irmela Orland.

Band war jahrelang als Psychologe in einer Malteser-Wohngemeinschaft für Menschen mit geistiger Behinderung tätig, die in unmittelbarer Nähe zur Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik liegt. Orland war bis zu ihrem Ruhestand Pfarrerin und Lehrerin in Berlin. Mit Schülerinnen und Schülern besuchte sie regelmäßig den heute noch unwirtlichen Ort, der mal ein Friedhof war, und regte sie an, Nachforschungen in Bibliotheken und Archiven anzustellen. Beherzt und beharrlich informierten die jungen Menschen die Verwaltungsspitze sowie Kommunalpolitiker des Bezirkes Berlin-Reinickendorf. Man zeigte sich interessiert und schließlich bereit, Zuschüsse zu geben.

Keine Erinnerung an die Opfer der Euthanasie

Diplom-Psychologe Band und Pfarrerin Orland setzten sich mit ihren Mitstreitern vom Freundeskreis über die Jahre hinweg für einen Gedenkort „Alter Anstaltsfriedhof“ ein. Seit Mitte September dieses Jahres nimmt das Ziel sichtbare Formen an. Der Eingangsbereich wird befestigt, das Gelände des ehemaligen Friedhofs soll von Unrat und Überwucherungen befreit und so in einen würdigen Zustand versetzt werden.

Pfarrerin Orland blättert in Aufzeichnungen, vergleicht verblasste Fotos von Reihengräbern mit dem, was heute geblieben ist: Grünbrache, hier und da Reste von Grundmauern – etwa von Friedhofshäuschen oder Baracken, in denen Zwangsarbeiter untergebracht waren. Diesseits der wackligen Friedhofsmauer, begraben unter Ahorn und Linden, liegen die sterblichen Überreste von Menschen, die in der Klinik als Patienten geführt wurden.

Aktuell erinnert nichts an die Toten und ihre Schicksale. Die insgesamt 15 Reihen waren in 16 Meter tiefen Doppelreihen als langgestreckte flache Hügel angeordnet, die heute mit Efeu bestanden sind. Noch in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren wurde der Menschen, die hier zu Tode „behandelt“ wurden, kaum gedacht. Die Reihen­gräber waren durchnummeriert, manche mit Namen versehen – anders als rund 50 Soldaten, die in den letzten Kriegstagen starben, hier begraben und später zu einem Kriegsgräberfriedhof umgebettet wurden, wo an sie als „Kriegsopfer“ erinnert wird. An die Euthanasie-Opfer indes erinnert auf dem alten Friedhofs­gelände: Nichts.

Die Mauern bildeten bis 1995 den Eingangsbereich des Friedhofes, der im Süden des weiträumigen Geländes liegt und heute an ein modernes Wohngebiet mit Eigenheimen angrenzt. 1995 wurde der Friedhof aufgehoben und die Grabsteine entfernt. Die Toten wurden nicht umgebettet. Seit Mitte der 1990er Jahre sind die wenigen Überreste der Friedhofsanlage überwachsen und überwuchert. Eine Zeitlang wurden sie gar – zum Entsetzen von Angehörigen der Opfer – als eine Art Naturlehrpfad geführt. Brunnenanlagen verfielen ebenso wie die spärlichen baulichen Reste.

Das Wissen über den künftigen Gedenkort, das im Freundeskreis im Laufe der Zeit gesammelt wurde, ist von beträchtlichem Wert für die Aufarbeitung der Geschichte der „Wittenauer Heilstätten“. Sie wurden nach dem Krieg ein paar Jahre lang von dem renommierten Psychiater Karl Bonhoeffer geleitet, Vater des Theologen Dietrich Bonhoeffer, der 1945 von den Nationalsozialisten umgebracht wurde.

Viele Dokumente gingen verloren

Bevor Karl Bonhoeffer als Klinikleiter berufen wurde, war die Nervenanstalt der Leidens- und Todesort für Tausende von Psychiatrie-Opfern, die hinter den Mauern der Heilstätten getötet wurden. Tausende wurden zwangssterilisiert. Viele starben als Opfer der Aktion T 4. Hinter diesem bürokratischen Kürzel vertuschten die deutschen Faschisten, ihre Ärzte, Wissenschaftler und Pfleger die systematische Ermordung von Menschen, die sie als „lebensunwert“ deklarierten. Zumal in den letzten Kriegsmonaten die Todesursachen in den Dokumenten notorisch und reihenweise

als „Herzmuskelentartung“ oder „Gehirnaderverengung“ gefälscht wurden, wie Pfarrerin Orland berichtet. Sie hat zahlreiche dieser gleichlautenden Todesurkunden im Berliner Landesarchiv gefunden, gesammelt und ausgewertet. Aber viele Dokumente gingen nach dem Krieg in den Ämtern verloren oder wurden achtlos entsorgt.

Einige Angehörige dieser Ermordeten konnten Irmela Orland und ihre Mitstreiter vom Freundeskreis ausfindig machen und sie darüber informieren, dass ihre Verwandten in Reihengräbern vor der Friedhofsmauer begraben wurden. Etwa aus der Enkelgeneration die Angehörigen der ermordeten Rosalie R., die in Briefen ihren Dank an den Freundeskreis ausdrückten, aber auch ihre Scham darüber, dass sie auf der Flucht aus Deutschland die Großmutter zurückließen.

Eine andere Familie gedenkt einer Angehörigen regelmäßig auf dem Gelände des aufgelassenen Anstaltsfriedhofs, lässt Blumenschmuck an einer Stelle zurück, wo die Ermordete begraben sein könnte. Die Hinterbliebenen begrüßen es sehr, dass die Grünbrache zu einem Gedenkort ausgebaut werden soll. „Sie haben unser komplettes Gartenwerkzeug finanziert“, freut sich Pfarrerin Orland, als sie eine Besuchergruppe über das Gelände führte.

Ein paar Profis wie die Steinmetze an der Mauer werden ebenso für fachmännische Qualität sorgen wie Gartenbauplaner vom Amt, Gärtner und Handwerker. Die Hauptarbeit des Herrichtens des Gedenkortes aber sollen Jugendliche übernehmen, die im Rahmen von Workcamps hier zu Werke gehen werden.Es gilt, das Gelände von Gartenabfall zu bereinigen, der in den vergangenen Jahren abgekippt wurde. Alte Friedhofsanlagen, etwa Brunnen, sollen archäologisch wieder präsentabel gemacht, kaum erkennbare Trampelpfade zu den alten Friedhofswegen würdig zurück gebaut werden. Wucherndes Strauchwerk ist zu entfernen, die Zweige und Äste der uralten Linden sind wieder so zu beschneiden, dass sie einen würdigen Rahmen für den Erinnerungsort abgeben.

Mehr Informationen hier.

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1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

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