Der Bundespräsident hat einen sozialen Pflichtdienst für junge Menschen vorgeschlagen. Was halten Sie davon, Frau Kurschus?
Ich kann dem viel abgewinnen. Es ist in mancher Hinsicht ein sehr reizvoller und positiver Gedanke, den weiterzuverfolgen sich lohnt. Nach meiner Wahrnehmung war der Zivildienst oder ist ein freiwilliges soziales Jahr für die allermeisten eine kostbare Zeit mit unerwarteten Erfahrungen, die sie im Rückblick nicht missen möchten. Eine solche Zeit kann ein großer persönlicher Erfahrungsschatz für die Einzelnen sein, von dem sie unter Umständen ihr ganzes Leben lang profitieren. Und auch für unsere Gesellschaft kann es belebend und bereichernd sein, wenn junge Menschen in einer bestimmten Phase ihres Lebens etwas für die Gemeinschaft tun, in der sie leben, und sich entsprechend einbringen.
Wichtig ist, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt – nicht alle können sich vorstellen, in einer Klinik am Krankenbett zu stehen oder in einer Pflegeeinrichtung zu helfen. Es sollte selbstverständlich niemand zum Dienst in einem Altenheim gezwungen werden. Aber wer keine Lust hat, bei der Pflege von Menschen zu helfen, hat vielleicht Lust, einen Garten zu pflegen oder einen Wald aufzuräumen.
Kritiker des Vorschlags meinen, dass ein Pflichtdienst zu stark in den Lebenslauf junger Leute eingreift, die zudem zu den Hauptleidtragenden der Pandemie gehören und sich in dieser Zeit sehr solidarisch gezeigt hätten.
Das stimmt, ihnen hat die Pandemie viel abverlangt. Mir leuchtet allerdings nicht ein, dass alles, was mit einer Pflicht in Zusammenhang gebracht wird, automatisch negativ konnotiert ist. Ich hielte die Verpflichtung zu einem sozialen Dienst nicht für einen ungebührlichen Zwang, der die Entfaltung junger Frauen und Männer zu sehr beschneiden würde. Ich finde, umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wir könnten jungen Menschen damit Lebensräume und Perspektiven eröffnen, die sie „freiwillig“ und von sich aus vielleicht nie entdecken würden.
In der Diakonie gibt es dazu unterschiedliche Stimmen: Bethel-Chef Ulrich Pohl unterstützt ein Pflichtjahr als „Instrument zur Stärkung gesellschaftlicher Solidarität“, für Diakonie-Präsident Ulrich Lilie müssen dagegen Freiwilligkeit und persönliche Überzeugung entscheidend bleiben.
Ein verpflichtender Sozialdienst ist eine Gratwanderung zwischen gelebter persönlicher Freiheit und dem Einsatz für andere. Im besten Fall sollte beides Hand in Hand gehen. Freiheit heißt ja nicht allein, dass ich meine Bedürfnisse möglichst ungehindert ausleben kann, sondern auch, dass ich meine persönliche Freiheit einer Gesamtgesellschaft verdanke, in die mein Leben eingebettet ist. In meinen Augen ist ein sozialer Pflichtdienst ein Raum, in dem ich frei bin, mich innerhalb eines bestimmten Zeitraums für andere Menschen und das Gemeinwohl einzusetzen. Von diesem Gemeinwohl profitiere ich schließlich selbst.
Der Bundespräsident erhofft sich durch eine Pflichtzeit für junge Menschen mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sind hier nicht auch ältere Menschen gefragt – und was müsste sonst noch für mehr Solidarität getan werden?
Vergessen Sie nicht, dass sehr viele Männer Wehr- oder Zivildienst geleistet haben, als sie jung waren. Aber Sie haben recht: Ein solcher Sozialdienst kann nur ein Anfang sein in einer Kette mit mehreren Gliedern. Es geht vor allem darum, ein Bewusstsein für Solidarität und die Notwendigkeit eines guten Miteinanders zu schaffen. Leider verliert unsere Gesellschaft zunehmend an Bereitschaft zur Toleranz; die Einzelnen kapseln sich in ihre sozialen Milieus und Meinungsblasen ein. Andere Sichtweisen werden immer weniger akzeptiert, und es gibt eine bedenkliche Entwicklung hin zu Wut und Hasstiraden. Hier sehe ich die Kirchen besonders in der Pflicht, Räume zu schaffen, in denen Begegnungen und Diskurs möglich sind. Die Auseinandersetzung ist ein Grundelement unserer Gesellschaft und von Demokratie überhaupt. Toleranz lässt sich nicht vorschreiben. Aber meine Hoffnung ist, sie könnte durch einen verpflichtenden sozialen Dienst für das Gemeinwesen gefördert werden.