Nahe dem Brandenburger Tor steht derzeit das Demokratie-Camp „Stop Putin’s Terror“, organisiert von Mitgliedern der russischsprachigen Diaspora. Jeden Tag gibt es Programm mit Diskussionen, Workshops und Kultur. Den Abschluss bildet ein ökumenischer Gottesdienst am Samstag, 9. Mai, um 18 Uhr mit Kai Feller, Pastor der Nordkirche. Im Interview mit Thomas Arzner erklärt er, was ihn dazu bewegt, warum Christen sich für Menschenrechte einsetzen und wie er mit dem Gefühl der Ohnmacht umgeht.
Her Feller, Warum beteiligt sich ein Pfarrer aus Deutschland am Demokratie-Camp für Russland?
Wir sehen in Russland eine Entwicklung von der autoritären Präsidialdemokratie hin zu einer Diktatur. Es gibt praktisch keine Möglichkeit mehr, gegen die herrschende Partei des Präsidenten bei Wahlen anzutreten. Und das Beispiel Nawalny ist nur die Spitze des Eisberges.
Und warum sollten sich die Christ*innen dafür interessieren?
Wenn ich vom christlichen Menschenbild ausgehe, gehört dazu fundamental die Würde des Menschen, die durch die Schöpfung begründet ist. Und die Menschenrechte setzen diese Würde in staatliche Praxis um. Das heißt, wo die Menschenrechte verletzt werden, wird die Würde des Menschen verletzt. Das hat also eine theologische Dimension.
Und die Kirchen dürfen dazu nicht schweigen?
Naja, die Kirchen dürfen alles Mögliche. Wir sehen ja, dass die orthodoxen Kirchen traditionell eher schweigsam sind. Auch in der deutschen Geschichte waren die Kirchen oft unkritisch gegenüber praktiziertem Unrecht. Aber sie haben daraus gelernt und reagieren heute besonders sensibel, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
Sie haben selbst als Jugendlicher die Diktatur in der DDR erlebt. Die Ausrichter*innen des Demokratie-Camps sind meist auch junge Leute. Gibt es Parallelen?
In der DDR konnte jede*r in die Mühlen der Behörden geraten – genau wie heute in Belarus: Es genügt ein Post oder die Teilnahme an irgendeiner Versammlung. Insbesondere junge Menschen rudern nicht so schnell wieder zurück; sie haben ein Gerechtigkeitsempfinden und lassen sich nicht so leicht den Mund verbieten. Und sind dann besonders gefährdet.
Wie gehen sie mit der Erfahrung von Ohnmacht um, die sich einstellen kann, wenn man das Treiben der Diktatoren weltweit sieht?
Was mir hilft, ist die Vernetzung mit vielen Menschen. Diese Ohnmacht lässt sich gemeinsam leichter ertragen als allein. Ich bete beispielsweise für Alexey Nawalny, dessen Leben im Augenblick akut bedroht ist, und ich hoffe, dass viele andere das auch tun. Das schafft eine Verbindung: Ich lasse das Leid eines Einzelnen an mich heran.
Die Gefahr ist, dass wir mit Nachrichten zugeschüttet werden und dass politische Gefangene nur noch Zahlen sind. Aber sie haben alle einen Namen, eine Geschichte und meist auch eine Familie. Sich da hineinzuversetzen und einzufühlen, dazu hilft mir das Gebet. Das gibt mir die Hoffnung, dass es nicht bleiben muss, wie es ist.
Ihr Gottesdienst am 9. Mai steht unter dem Leitwort Versöhnung: Wie kann Versöhnung zwischen den unterschiedlichen Lagern von „Putin-Verstehern“ und „Demokratie-Anhängern“ gelingen?
Ich denke, viele „Putin-Versteher“, zumindest in Deutschland, verstehen Putin gar nicht, sondern haben ein Wunschbild vor Augen. Ich höre immer wieder, gerade auch aus kirchlichen Kreisen, dass man miteinander reden müsse. Aber was mache ich, wenn die andere Seite solche Gespräche verweigert oder ins Leere laufen lässt? Wir erleben das gerade im Konflikt von Russland mit der Ukraine: Die Ukraine hat um Gespräche im Rahmen des Europarates gebeten und Russland hat nicht reagiert. So wird das schwierig.
Wie gelingt Versöhnung nach dem Ende einer Diktatur?
Wenn Schuld eingestanden wird und möglichst viele die Chance auf einen Neuanfang bekommen. Aber das müssen die Menschen in den jeweiligen Ländern selbst regeln. Ich traue denen das auch zu. Gerade in Belarus ist der friedliche Protest nicht nur Methode, sondern er widerspricht der Logik der Gewalt. Wenn sie sich durchsetzen, werden sie den Spieß nicht umdrehen. Sie werden die anderen, die „verloren“ haben, nicht zu politisch Verfolgten machen. Wer Verbrechen begangen hat, muss natürlich bestraft werden. Aber die Menschen, die in einem Unrechtssystem leben und von diesem auch geformt werden, müssen die Chance bekommen, neu anzufangen.
Kai Feller, geboren 1971 in Berlin-Pankow, ist in der Nordkirche für ökumenische Beziehungen zuständig. Weil er 1988 an der Carl-von-Ossietzky-Oberschule in Berlin-Pankow Unterschriften gegen die Ost-Berliner Militärparaden gesammelt hatte, wurde er mit anderen Schüler* der Schule verwiesen. Die „Ossietzky-Affäre“ erregte großes Aufsehen in und außerhalb der DDR.
Kontakt: www.twitter.com/FellerKai
Infos zum Camp unter www.unkremlin.org