Predigttext am 14. Sonntag nach Trinitatis: Lukas 19,1–10
Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.
Von Joachim Koppehl
Ob sich die Geschichte vom Baumkletterer Zachäus so abgespielt hat? Möglich. Oder hat sich der Schriftsteller Lukas diese Geschichte ausgedacht? Einer ist neugierig auf Jesus. Hat das jemand, der heute diese Geschichte liest oder erzählt bekommt, schon mal erlebt, dass einer oder eine auf Jesus neugierig gewesen ist?
Ich kann mich nicht erinnern, das in meinen Gemeinden erlebt zu haben. Ja, auf Kirche war man neugierig. Vor großen Veranstaltungen wie auf einem Kirchentag oder im Alltagserleben zu DDR-Zeiten habe ich erlebt, dass man auf Kirche oder auf einen Pfarrer oder eine Pfarrerin in der Gemeinde, beim Bürgermeister, in der Schule, bei Behörden neugierig gewesen ist. Aber dass jemand auf einen Baum geklettert ist, das wird nur von Zachäus erzählt. Er war klein. Er wollte Jesus sehen. Er wollte ihn kennenlernen. Aber die Menge am Straßenrand versperrte ihm die Sicht. Er wusste wohl auch, dass er bei der Menge keine guten Karten hatte. Er verfügte wohl als Zöllner über ärgerliche Machtbefugnisse, privat wollte man mit ihm nichts zu tun haben. Und so kletterte er auf einen Baum. Seine Neugierde war nicht, wie dieser Jesus wohl aussehen wird.
Nein, er hatte davon gehört, dass Jesus helfen kann, wo Menschen mit ihrem Leben nicht mehr klarkommen. Obwohl er als Zollbeamter über einen komfortablen Arbeitsplatz verfügte, war ihm bewusst, dass seine Mitbürger in ihm einen Ausbeuter sahen. Das muss ihn doch sehr bedrückt haben. Ja, so ist das: Nicht nur „die Armen“ haben Probleme, denen geholfen werden muss. Die Kirche ist auch heute wirklich engagiert, armen Menschen vor Ort und weltweit zu helfen. Von der Kirche, von der christlichen Gemeinde wird mit Hinweis auf Jesus viel erwartet – und das ist in Ordnung. Lukas hat uns aber eine Geschichte überliefert, die im Umkreis „der Reichen“, der unsympathischen Zeitgenossen, von Ausbeutern und trickreichen Ich-Menschen angesiedelt ist.
Ja, was ist mit den „Reichen“ jenseits der „Armen“ jeder Hautfarbe, mit ausreichender Bildung, mit Titeln und gesellschaftlicher Achtung und Sicherheit? Was ist es mit uns, denen es eigentlich ganz gut geht, die hier und da auch schlaflose Nächte haben? Die darum wissen oder ahnen, was sie quält, was sie verdrängen und woran sie doch erinnert werden, was aufgearbeitet werden müsste?
Und dann geschieht etwas Unvorhergesehenes: Als Jesus den Mann im Baum sah, rief er ihn an: „Zachäus, schnell! Komm herunter! Ich möchte heute in deinem Haus bei dir sein.“ Am Ende der Geschichte heißt es: „Die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.“ Auf diesen Jesus kann man auch heute neugierig sein.
Es muss ja nicht ein Baum sein. Es kann auch eine Kirche sein oder ein Christenmensch, die oder der sich mit Jesus im Herzen um Menschen kümmert, um die sich sonst keiner kümmert. „Komm herunter! Ich will bei dir sein!“ – das ist das Evangelium, die frohe Botschaft!
Joachim Koppehl war Superintendent in Berlin-Mitte.