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Land und Kirche unter Beschuss

Die Hälfte seiner Gemeinde in Charkiw in der Ukraine ist auf der Flucht, die andere Hälfte sucht Zuflucht in ­Kellern. Gottesdienste ­können kaum noch gefeiert werden. Davon erzählt Pavlo Shvarts, Gemeindepfarrer in der stark umkämpften Stadt und Bischof der Evangelisch-Lutherische Kirche in der Ukraine im Interview mit Dariusz Bruncz.

Eine nicht detonierte Bombe vor einem Wohnhaus in der Nähe von Chernihiv, nordöstlich von Kiew. Die Bewohner der Siedlung konnten fliehen. Foto: State Emergency Service of Ukraine

Bischof Shvarts, bei unserem letzten Gespräch waren Sie bei Charkiw. Heute sind Sie in der Stadt Luzk in der nordwestlichen Ukraine?

Kurze Zeit wohnte ich nahe der Stadt Charkiw, weil es ­sicherer war, von dort aus in die Stadt zu pendeln. Später fuhr ich ­einige Frauen aus meiner Gemeinde, darunter eine schwangere Frau, mit dem Auto in die Westukraine. In Krementschuk im im Südosten machten wir einen Zwischenstopp. Unsere dortige Kirchengemeinde gewährt evakuierten Flüchtlingen aus dem Osten zeitweilig Schutz. Dann fuhren wir den ­ganzen Tag weiter, um schnellstens Riwne und Luzk im Nordwesten der Ukraine zu erreichen. Von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Polen kamen dort Busse mit humanitärer Hilfe an und nach der Ent­ladung der Hilfsgüter nahmen sie auf dem Rückweg Flüchtlinge mit. 

Wie geht es für Sie von Luzk weiter?

Ich bereite mich auf die Rückreise nach Charkiw vor. Es ist schwer einzuschätzen, bis wohin ich fahren kann. Die Situation hat sich radikal verändert, seitdem wir die Stadt verlassen haben. Zuerst griffen die ­Russen Militärziele an, aber kurz nach unserer Abreise beschossen sie auch zivile Infrastruktur, Wohnungs- und Verwaltungsgebäude. Ich bekomme Informationen aus Charkiw, dass man dort entweder Kampfflugzeuge fliegen oder Artilleriegeschütz hört. Es gibt immer noch viele Menschen, die mit Autos oder Zügen zu fliehen versuchen. Am Anfang dachten sie, sie würden erst einmal abwarten, wie sich alles entwickelt. Aber der Feind greift immer stärker an. 

Wie bewerten Sie die Lage in der evangelischen Kirchengemeinde in Luzk?

Hier ist es noch relativ ruhig, ­genauso wie in Riwne, wo sich auch zwei mit unserer Kirche assoziierte reformierte Gemeinden befinden. Dort helfen sie den Flüchtlingen aus der Ostukraine. Zuerst beschossen die russischen Truppen die benachbarten Flughäfen, aber abgesehen vom Fliegeralarm gab es bisher keine schwerwiegenden Situationen im Westen des Landes. Es ist aber eine gewisse Anspannung spürbar, ob sich die Belarussen offen am ­russischen Vernichtungskrieg ­beteiligen werden. 

Gibt es Nachrichten aus anderen Kirchengemeinden?

Die Gemeinden in Poltawa und Krementschuk im Südosten liegen Charkiw am nächsten. Sie stellen Notunterkünfte zur Verfügung. Die Gemeinde in Schostka im Sumski-Oblast ist von feindlichen Truppen umzingelt. Berdiansk befindet sich anscheinend unter russischer Besatzung. Es gelang uns, den Gemeinden  dort Geld zu über­geben, damit sie sich mit den nötigsten Sachen versorgen können. In Saporischschja war es ruhig, aber es heißt, die russischen Angriffstruppen würden sich der Stadt annähern. (Anmerkung der Redaktion: In der Nacht zum 4. März wurde dort das Atomkraftwerk angegriffen und ein Brand ausgelöst.) Die Gemeinde in Zmiewka (Cherson Oblast), die am Dnjepr-Ufer liegt, befindet sich auch auf besetztem Territorium. Dort ist die Situation sehr angespannt, weil die von der Kirchengemeinde betreuten Gebiete zwischen die Fronten gerieten. Einige Dörfer wurden zerstört. In Odessa gab es bisher keinen Einsatz der Landungstruppen, aber Zweidrittel unserer Gemeindeglieder reisten bereits aus. Bei Odessa haben wir noch zwei kleinere Gemeinden, aber die meisten Menschen sind ­daheim geblieben. In Kiew werden starke Gefechte ausgetragen. 

Medien berichten über Versorgungsengpässe.

In Kiew ist es schwierig, an die ­Lebensmittel ranzukommen, aber die Lage ist noch nicht dramatisch. Noch nicht.

Hat der Krieg die ökumenischen ­Beziehungen verändert?

Unsere Kontakte zwischen den Kirchen waren immer gut. Der Krieg stellt keinen Einschnitt dar. Die ­Kirchen sind jetzt auf diakonische Maßnahmen konzentriert. Die einen fokussieren sich auf Hilfe für Krankenhäuser und verwundete Soldaten, die anderen auf Territorialverteidigung und Logistik. In Charkiw arbeite ich mit meinem Kollegen, dem Baptistenpastor, zusammen. Wir ­betreiben einen logistischen Stützpunkt. Von dort aus versorgen wir  die in der Stadt verbliebenen Menschen mit humanitärer Hilfe. 

Wie ist die Stimmung der kämpfenden Ukrainerinnen und Ukrainer? Herrscht eher Resignation oder Kampfbereitschaft?

Bei uns gibt es keine  Müdigkeit. Vielmehr spürt man Entschlossenheit und Widerstandsfähigkeit. ­Bedauerlicherweise nimmt auch der Hass zu, und zwar mit jedem Angriff gegen die Zivilbevölkerung. Sogar in der Stadt Charkiw, die nur 40 Kilometer von der russischen Staatsgrenze entfernt ist und viele Handels- und Familienkontakte zu Russland unterhält, verändert sich die Stimmung enorm. Viele Einwohner in Belgorod auf der russischen Seite haben Verwandte bei uns und umgekehrt. Der Krieg führt dazu, dass auch Menschen aus Charkiw, die den Russen wohlgesonnen sind, massiv enttäuscht sind, weil ihre Schwestern und Brüder, Familie oder Glaubensgeschwister, kein spürbares Mitleid oder Barmherzigkeit zeigen. Freilich gibt es lobenswerte Ausnahmen, aber die meisten Äußerungen sind niederschmetternd. 

Können Sie ein Beispiel nennen?

Vor ein paar Tagen behauptete eine russischstämmige Pfarrerin in den Sozialen Medien, die kürzlich noch mit uns zusammenarbeitete, in der Ukraine führe man einen „heiligen Krieg“ gegen Faschisten und Nationalisten. Man wolle uns von ihnen befreien. Es gibt auch Signale von Amtsbrüdern, die sagen, nichts sei doch so eindeutig, man müsse halt für Frieden beten. Da wird versucht, ein Narrativ von der gemeinsamen Schuld und der Bußnotwendigkeit rüberzubringen, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wer der eigentliche Aggressor ist. Auch heute bekam ich eine Mail mit dem Wunsch, dass wir nicht „in Versuchung geführt“ würden. Ich hielt es nicht aus und erwiderte, dass wir nicht von Versuchungen angefochten werden, sondern um Menschenleben bangen und damit beschäftigt sind, dass die Hälfte meiner Gemeinde unter Bombenhagel geflohen ist und die andere ihren Schutz in Bunkern sucht. 

Inwieweit beeinflusst diese Zeitenwende Ihre Beziehungen zu anderen Kirchen im Rahmen der ELKRAS, der Union der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien?

Innerhalb der ELKRAS werden wir ein ernstes Problem haben, diese Gemeinschaft überhaupt aufrechterhalten zu können. Denn wir erleben, wie die Propaganda gegenseitiges Vertrauen zerstört. In einer Diskussionsgruppe für Geistliche fragte ich meine Kolleg*innen, ob sie sich überhaupt einmal die Mühe gemacht haben, sich nach unserem Schicksal zu erkundigen. Wir bekommen viel Unterstützung aus dem Westen, aber so gut wie nichts aus den Kirchen, mit denen wir in einer kirch­lichen Struktur verbunden sind. Es sollte nicht so sein, dass wir in einer solchen ­Situation einen „geistigen Unterstützungsbrief“ bekommen, der offenbar eher nach Beleidigung als nach Unterstützung klingt. Ich sehe schon ein, dass es ihnen zuweilen auch schlecht geht oder dass sie mit der Staatspropaganda zurechtkommen müssen, wenn sie von russischen Medien erfahren, dass die Ukrainer selbst ihre Städte zerstören würden. Aber es schadet nichts, wenn man einfach mal bei uns anfragt, wie es wirklich um uns bestellt ist. 

Die Corona-Pandemie hat deutlich offengelegt, wie viele Menschen anfällig für Verschwörungstheorien seien. Der Krieg hat zudem noch unsere Beziehungen zu Gott und anderen Mitmenschen enthüllt. Es wird die Zeit kommen, in der wir das alles verarbeiten müssen. Es wird die Zeit der Heilung kommen, aber zuerst muss dieser Krieg enden.  

Können Sie unter diesen Bedingungen noch Gottesdienst feiern?

Dort, wo keine aktiven Kriegsoperationen ausgeführt werden, ­finden Gottesdienste statt. Dort, wo Kirchen als Notunterkunftszentren gebraucht werden, verzichten wir auf die gewohnten Gottesdienste. In vielen Orten sind Versammlungen von Menschen in Kirchengebäuden schlicht gefährlich. Manche Pastoren bieten Online-Gottesdienste an. Ich persönlich konnte seit dem Kriegsbeginn keine Gottesdienste halten, weil ich mit Menschen unterwegs war. Wir haben nur ein kurzes Gebet in Krementschuk arrangiert, wo wir sicher waren vor Bomben. 

In der Ukraine kam ein Bus mit Hilfsgütern aus Polen an. Beides ­finanzierten das Gustav-Adolf-Werk und der Martin-Luther-Bund. Was bräuchten Sie noch?

Wir haben Hilfe sowohl von Privatpersonen als auch von Kirchen bekommen. Wir freuen uns besonders über den gespendeten Bus, der sehr nützlich bei Transporten von Lebensmitteln und der Beförderung von Menschen sein  wird. Damit wird es uns auch gelingen, Hausbesuche auch dort besser zu organisieren, wo Menschen zwar nicht vom Krieg betroffen sind, aber ohnehin schon in einer sehr schwierigen sozialen Lage sind. Ständig arbeiten wir am Ausbau unseres Netzwerkes von Ehrenamtlichen in unseren Kirchengemeinden. Wir versuchen unser Bestes zu tun. Dank der Unterstützung des Lutherischen Weltbundes planen wir ein größeres Hilfsprojekt. Aber jetzt müssen wir uns vor allem darauf konzentrieren, das Menschenleben zu retten. 

Tagesaktuelle Informationen finden Sie auf der Seite des Gustav-Adolf-Werks https://glauben-verbindet.blogspot.com, besonders auf Twitter 

Wer mit Spenden helfen möchte: ­

Spendenkonto:
Gustav-Adolf-Werk EKBO:
IBAN: DE80 5206 0410 0003 9013 60
BIC: GENODEF1EK1,
Stichwort: Nothilfe Ukraine/Bischof Pavlo Shvarts
oder online spenden unter:www.gustav-adolf-werk.de

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1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

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