Predigttext am 10. Sonntag nach Trinitatis: 2. Mose 19,1–6
Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. Sie brachen auf von Refidim und kamen in die Wüste Sinai, und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der Herr rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.
Von Johanna Melchior
Dieses Erzählen ist wie das Lesen in einem alten Liebesbrief, dessen Worte laut gelesen werden wollen. So „erklingt“ er immer wieder neu, Jahr für Jahr. Seine Worte ergreifen die Lesenden und Hörenden. Alljährlich im Gottesdienst in den Synagogen. Diese Worte als Predigttext am „Israelsonntag“ erbitten auch in den Kirchen unser Hören mit weitem Herz und gutem „Nachklang“.
Zwei Liebende begegnen sich: Gott und sein Volk. Er hat Israel aus der Knechtschaft geführt und wird die Menschen Freiheit und Verantwortung lehren. Im Erzählen kommt alles ganz nahe. Genau wird es beschrieben – der Tag, die Zeit, die Umstände.
An diesem Tag – bei jedem Lesen und Hören ist es wieder „dieser Tag“. So wird er immer auch zum „Heute“ am Berg der herausgehobenen Begegnung. „Gott spricht heute zu mir, und sein Wort geht mit mir, allezeit.“ Das darf jeder für sich annehmen und „im Herzen bewegen“ und in sich nachklingen lassen.
Im zweiten Vers begegnet in wenigen Worten die ganze Liebesgeschichte Gottes mit Israel. Aufbruch – der Weg aus der Knechtschaft. Ankommen – der Weg in und durch die Wüste. Bleiben, „Lagern“ gegenüber dem Berg – der Weg im Gegenüber mit Gott. Der Weg mit seinem Wort im Herzen und erkennbar im Tun.
Mose stieg hinauf – ein Mensch erhebt sich aus seinen Alltäglichkeiten, richtet sich auf und geht innerlich hinauf, wenn er nach Gott fragt und ihm begegnen will. Jüdische Tradition sagt: Wer zur Toralesung gerufen wird, steigt hinauf. Wer nach Israel einwandert, erlebt ein Aufsteigen (hebräisch: Alija).
Ihr habt gesehen – Gott setzt es seinem Volk in Erinnerung: Er hat Israel in die Arme genommen, getragen und zu sich gebracht. Eltern nehmen ihr geliebtes Kind in die Arme, legen es an ihr Herz und tragen es sicher. Israel liegt Gott am Herzen. „Ihr habt gesehen“ ist auch ein Anklang an das dritte Kapitel, in dem erzählt wird: „Gott hat gesehen“ – das Leid Israels in Knechtschaft und Todesnot. Er antwortet und ist da, getreu seines Namens: „Ich bin da“.
Ihr seid mein Eigentum – Liebe ist Sehen und Hören, einander wahrnehmen, füreinander da sein. Gott und Israel, eine Beziehung in Liebe. Und die muss oft auch ertragen können!
Gott trägt und erträgt so manches. Er bittet um ein offenes Ohr und Herz für ihn und sein Wort. Liebende eben, in unverbrüchlicher Treue von seiner Seite: Gott und Israel.
Nehmen wir Christen uns das zu Herzen. Nicht nur alljährlich am „Israelsonntag“. Jeder Sonntag und jedes Bibellesen ist eine Begegnung mit Gott und seiner Liebe Israel.
Johanna Melchior ist Pfarrerin in Cottbus und Mitglied im Leitungskreis der Arbeitsgemeinschaft Judentum und Christentum in der EKBO.