Von Anfang an ist man sich eines Problems bewusst: Um die kirchlichen Verhältnisse zu bessern, braucht man kleinere Gemeinden, also neue Kirchen. Aber dafür reichen die Mittel des Vereins nicht. Manche sträuben sich auch: Die soziale Not ist so groß, es gibt doch wahrhaftig dringendere Aufgaben als Kirchen zu bauen! Andere aber meinen, gerade die neuen Kirchen würden die Not lindern.
Der Vertreter der Rheinprovinz bricht den Bann. Er überreicht der Kaiserin im Mai 1889 einen Betrag von 20 000 Reichsmark, der eigens zur Errichtung einer kleinen Kirche in einem besonders armen Berliner Vorort bestimmt ist. Auguste Victoria fügt den gleichen Betrag hinzu, andere folgen ihrem Beispiel und schon im Juni wird das erste Bauprojekt in Angriff genommen. Dazu ausersehen ist die Parochie Lichtenberg-Stralau. Dort soll nun in Rummelsburg eine neue Kirche entstehen, im angesagten neugotischen Backsteinstil.
Nicht einfach, nach so langen Jahren der Untätigkeit das Berliner Konsistorium auf Trab zu bringen! Die Kaiserin muss Druck machen, bis überhaupt die Gründung einer neuen Parochie bewilligt wird. Und dann fehlt ja auch noch viel Geld. Auguste Victoria appelliert an die reichen Berliner Gemeinden. Die St. Matthäusgemeinde lässt sich erweichen und spendet zum Geburtstag der Kaiserin 100 000 Reichsmark.
Der Magistrat von Berlin stellt den Baugrund zur Verfügung für eine Kirche mit 1 000 Plätzen – man hat Hoffnungen. Auch ein Pfarrhaus und ein Gemeindehaus mit Krippe und Volksküche sollen entstehen.
Lyrik zur Grundsteinlegung
Am 4. Mai 1890 erfüllen sich die Wünsche, die man bei Hof hegt. In Rummelsburg fällt eine geplante große Arbeiterdemonstration aus, denn die Kaiserin kommt. Sie erscheint zur Grundsteinlegung der Kirche. Der ganze Ort ist geschmückt, um sie zu empfangen. Und Konsistorialrat Arnold hat zur Feier der Stunde gedichtet: „Der Grund erklingt vom wehn’den Hammerschlage, / Erfahr es Erde, Lüfte tragt es hin; / Verstummen darf die bang empfundene Klage, / Den Hammer führt die deutsche Kaiserin. / Was ernstlich unser Streben / Ein langes Menschenleben / Heil ihr, die’s bald erlangt zu geben hat: / Mehr Gotteshäuser um die Kaiserstadt.“
Trotz dieses stolzen Gesangs wird sich die Auseinandersetzung mit dem kirchlichen Bauamt noch als zäh erweisen. Dennoch: Bereits am 21. Oktober 1892 kann die Erlöserkirche in Rummelsburg eingeweiht werden, pünktlich zum Geburtstag der Kaiserin. Sie muss dem Ereignis allerdings fernbleiben, es weht ein kalter Wind und sie hat gerade erst ihre Tochter Victoria Luise entbunden. Doch der Kaiser sitzt in der ersten Reihe und hört die Ansprache des Herrn von Levetzow, die einiges vom kirchlichen Geist der Zeit verrät: „Was Landesvater und Landesmutter in christlicher Liebe und Barmherzigkeit, in treuer Sorge für irdische Wohlfahrt und ewiges Heil ins Leben riefen, das wolle der allmächtige Gott segnen und einen Segen sein lassen nicht nur für unsere evangelische Kirche und diese Gemeinde, sondern auch für unsere Kaiserlichen und Königlichen Majestäten und Allerhöchstderen Haus.“
Offene Kirchen für gestresste Arbeiter
Töne, die dem Kaiserpaar gewiss nur selbstverständlich sind. Ebenso selbstverständlich glaubt Auguste Victoria, dass ihr religiöses Empfinden von denen geteilt wird, die sich in den nasskalten Mietskasernen oft zu mehreren ein Bett teilen müssen, in dem sie schichtweise schlafen. Sie ordnet an, dass in Rummelsburg das Abendläuten eingeführt wird. Sie ersucht das Konsistorium, die Berliner Kirchen auch an Wochentagen zu öffnen und liturgische Andachten einzuführen, um den in hastigem und geschäftigem Treiben dahineilenden Massen die Gelegenheit zu kurzer Ruhe und Andachtspausen zu bieten.
Ein eigener Verein muss her
Schon im Januar 1890 hatte der kirchliche Hilfsverein eine Kirchbau-Kommission eingesetzt, um der Schwierigkeiten Herr zu werden, die sich beim Bau in Rummelsburg ergaben. Wenige Monate später weiß man dann: Die Sache braucht einen eigenen Verein, der die Verbindungen zu Baubehörden, Magistrat und Konsistorium, zu Geldgebern und Gemeindevertretern koordiniert. Der Kirchbau-Verein wird ins Leben gerufen, dessen Geschäftsführung wiederum beim Freiherrn von Mirbach liegt und dessen Schirmherrschaft natürlich Auguste Victoria übernimmt. Trotzdem arbeitet der Kirchbau-Verein eigenständig, Gelder des Hilfsvereins werden allenfalls als Beihilfen eingesetzt. Sie sind auch gar nicht nötig, denn nach einem großzügigen „Gnadengeschenk“ des Kaisers hat das Kirchbaufieber weite Kreise der wohlhabenden Gesellschaft und auch die Kirchengemeinden selbst erfasst.
Noch während die Kirche in Rummelsburg im Bau ist, kann Auguste Victoria viele weitere Grundsteinlegungen begehen: Im Wedding sollen die Himmelfahrts-, die Versöhnungs- und die Neue Nazarethkirche entstehen, in Prenzlauer Berg die Gethsemane-Kirche, an der Prenzlauer Allee die Immanuel-Kirche, in Kreuzberg die Emmaus-Kirche, in Schöneberg die Luther- und die Apostel-Paulus-Kirche, in Moabit die Heilandskirche, im Invalidenpark die Gnadenkirche und nahe der Frankfurter Allee die Samariterkirche, schließlich auch die Kirche zum Guten Hirten in Friedenau. Fast alle werden sie das Berliner Häusermeer in neugotischer Backsteinpracht überragen.