Von Bischof Christian Stäblein
Liebe Leserinnen und Leser, liebe Geschwister, was für Zeiten. Weihnachten kommt. Und wir sind alle ziemlich hin- und hergerissen. Besonders die Beruflichen und die vielen Ehrenamtlichen, die Verantwortung für die Gottesdienste in den kommenden Wochen tragen. Können wir sie feiern? Oder ist es gerade viel mehr geboten, zum Schutz des Nächsten die Präsenzgottesdienste abzusagen, stattdessen auf die Gottesdienste in anderer Form und in den verschiedensten Medienkanälen zu setzen? Diese Fragen können einen ziemlich zerreißen. Denn zum einen, keine Frage, lieben wir alle die Christvespern, Metten und Krippenspiele, können uns ein Fest ohne sie kaum vorstellen. Seit Wochen planen und bereiten viele in unserer Kirche diese Gottesdienste vor, gerade auch unter den besonderen Umständen, mit Hygienevorschriften und unter der Devise „kurz, klein, häufig, draußen“. Ich erlebe viel Kreativität, Planungsbereitschaft und Verantwortungsgefühl. Zum anderen kommen wir in eine Phase, in der wir gehalten sind, alle nur denkbaren Kontakte zu minimieren. Die Frage wird lauter, warum ausgerechnet die Kirchen hier nun eine Ausnahme beanspruchen. Eine Ausnahme, die ihnen qua Religionsrecht zusteht, das bestreitet niemand. Aber steht uns die Ausnahme auch von unseren eigenen Werten her zu? Müssten wir nicht zum Schutz des Nächsten darauf verzichten?
Es treibt mich hin und her zwischen diesen Positionen und ich erlebe es so, dass wir oft beide Haltungen in uns haben. Da mag man dann beide Überzeugungen noch mit der schönen Frage „Was würde Jesus tun?“ verbinden, eine eindeutige Antwort ergibt das leider auch nicht. Einerseits wird man sagen können: Jesus – und durch ihn verkörpert die Grundhaltung der Liebe – legt immer den Verzicht zum Wohle des anderen nahe. Oder wie es in einer „Spiegel“-Kolumne dieser Tage hieß: Jesus würde Oma nicht besuchen, sondern Oma schützen. Andererseits lässt sich gerade aus der Grundhaltung der Liebe betonen: Jesus war da, bei den Menschen, gerade auch den Kranken, gerade bei denen. Einsamkeit macht bekanntlich auch krank.
Als Kirche, als Christ*innen, müssen wir für den Nächsten da sein, füreinander. Das sagt mir mein Glaube. Mit Seelsorge, offenen Kirchen, verschiedenen Formaten, kurzen, kleinen Gottesdiensten, selbstverständlich nur da, wo es möglich und verantwortbar ist. Da da sein.
Es gilt gut evangelisch, dass Entscheidungen, ob hier ohne Risiko Gottesdienst gefeiert werden kann, nicht von „oben“ getroffen und dann durchgestellt werden, sondern Kirche ganz Kirche vor Ort ist und dort die Verantwortung trägt. Allerdings höre ich dann wieder: Ach so, dann lasst ihr die Menschen also mit der Verantwortung vor Ort allein? Und so bleibt es ein gutes Stück ein Zerrissensein, in dem ich nur versuchen kann, diese und jene zu stärken. Die Gottesdienste in Präsenz feiern, will ich stärken, weil ich weiß, sie tun das höchst verantwortlich und weil sie so für die Menschen da sind, mit Trostraum und Weihnachtsbotschaft. Und die, die Gottesdienste absagen und auf andere Kanäle setzen, will ich auch stützen, weil ich weiß, sie tun das wahrlich nicht leichten Herzens und aus demselben Auftrag der Nächstenliebe.
Beiden Haltungen und uns allen will ich gerne zurufen: Der Besuch ist längst da, Jesus ist längst gekommen. Über Weihnachten ist schon entschieden worden, vor 2000 Jahren. Die ganze Kirche wird zu diesem Fest ein Gottesdienst, ob zu Hause, im Radio oder im Kirchgebäude, ob auf dem Platz draußen, im Fernsehen oder am Telefon, in aller Brüchigkeit und Zerrissenheit, an den Krankenbetten und in den Wohnzimmern, in aller Aufteilung ein Gottesdienst.
Und wenn Sie mögen, können Sie am Heiligabend um 20 Uhr auf dem Balkon oder vor der Tür, wo auch immer Sie sind, ein gemeinsames „Stille Nacht, Heilige Nacht“ singen. Dass es von Nord nach Süd, von Ost nach West in jedes Ohr und Herz dringe: Jesus ist geboren. Und längst da. Kommt in unsere Zerrissenheit. Und macht sie ganz.
Ich danke Ihnen! Und wünsche gesegnete Weihnachten.