Nichts ist gut an der EU-Außengrenze
Wie Verbrecher werden Flüchtlinge an der polnisch-belarussischen Grenze zusammengetrieben. Weder dürfen Hilfsorganisationen zu ihnen noch Rechtsbeistand oder Ärzte. Inzwischen kritisieren auch die Kirchen das Vorgehen polnischer Behörden.
Von Dariusz Bruncz
An der polnisch-weißrussischen Grenze wird derzeit die Flüchtlingskrise von 2015/2016 im kleineren Format durchgeübt, und zwar mit Stacheldraht, ideologischen Hasstiraden zum innenpolitischen Gebrauch sowie teils erschreckenden Debatten. Darin schrecken Verantwortungsträger und regierungsnahe Medien nicht vor abscheulichen Bildern mit pädophilen und zoophilen Inhalten auf einer Ministerpressekonferenz zurück, die angeblich auf Handys von Flüchtlingen gefunden worden sein sollen, und betreiben so Stimmungsmache gegen Flüchtlinge, die über Belarus nach Polen kommen.
Der ausgerufene und vor ein paar Tagen verlängerte Notstand in den Grenzgebieten, der auch der lokalen Bevölkerung zu schaffen macht, wird als nötige Brandmauer gegen die illegale Einwanderung stilisiert. Gleichzeitig aber wird der Einsatz von Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, nicht willkommen geheißen, anders als in Litauen. Unabhängige Berichterstattung ist wegen des Notstands nicht möglich und die Öffentlichkeit ist entweder auf Informationsfetzen der NGOs oder das auf Parteilinie getrimmte Staatsfernsehens angewiesen. Menschen, darunter auch unterkühlte Kinder mit einem Polizeimaskottchen beschenkt, werden von Sicherheitskräften in die weißrussischen Grenzwälder zurückgedrängt. Dies zeigt die Ohnmacht und Verantwortungsverdunstung auf vielen Ebenen.
Nichts ist gut an der EU-Außengrenze – die Worte der früheren EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann sind leider auf diese Situation gut anwendbar. Auch die Kirchen in Polen melden sich zu Wort, eigentlich nur zwei – zuerst mahnte per Twitter der leitende Bischof der Evangelisch-Augsburgischen (Lutherischen) Kirche Jerzy Samiec an, ein starker Staat solle keine Angst vor einer Handvoll Menschen haben, die im Grenzgebiet festsitzen. Ein christliches Land biete ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen – so der Bischof. Dann kam noch der Appell des lutherischen Konsistoriums, in dem betont wurde, die christliche Identität des Landes lasse sich weder in kirchlichen Krypten festbetonieren noch auf religiöse Lippenbekenntnisse reduzieren. – Wir kennen kein anderes Evangelium als dieses über Gott, der für uns in Jesus Liebe geworden ist und das die Erzählung vom barmherzgien Samariter zum Ausdruck bringt – schrieb das Konsistorium. Die evangelisch-lutherische Kirche rief die Gemeinden und Gläubigen zu einer Spendenaktion auf, aber nicht unter kirchlicher Schirmherrschaft. Sondern sie ermutigte zur Unterstützung der Stiftung Ocalenie (Rettung), die vor Ort zu helfen versucht. Noch vor Verhängung des Notstands war sie die erste NGO, die den Flüchtlingen beistand. Auf der Internetseite des lutherischen Informationsbüros wurde sogar eine Zahlungsweiterleitung direkt an Ocalenie eingeblendet. Damit sollte die Arbeit der Stiftung gestärkt und Doppel-Strukturen vermieden werden, da die evangelische Minderheitskirche nicht überall im Lande repräsentiert wird, auch nicht im Osten Polens.
Inzwischen sind auch Stimmen aus der römisch-katholischen Mehrheitskirche vernehmbar – sowohl von verschiedenen Laien als auch von Priestern aus dem „Reformflügel“, aber auch seitens einzelner Würdenträger. Mahnungen und zumal auch klare Worte prallen jedoch an relativ hohen Zustimmungswerten für die Regierungspolitik exzellent ab. In einem komplizierten Interessennetz aus ideologischen Seilschaften zwischen den Regierenden und bedeutenden Kreisen der kirchlichen Hierarchie und Geistlichkeit wird die Lage der Hilfesuchenden fast ausschließlich aus dem Blickwinkel der geopolitischen Machtspiele des Lukaschenko-Regimes gesehen, dessen zynisches Spiel wohl niemand bestreitet.
Im Vorfeld des bevorstehenden Weihnachtsfestes und der damit verbundenen Dramatik vom Kindlein Jesus, das mit seinen sittlich suspekten Eltern nach Ägypten flieht, fragen sich manche, wieso kirchliche Wortmeldungen zur Nächstenliebe, ja der Sorge um das geborene Leben, so wenig Zuspruch und Interesse finden, wohingegen aggressive Gereiztheit mit christlich-national verbrämter Empörungsindustrie bei solchen Themen wie LGBT- und Frauenrechten blitzschnell die Schlagzeilen erobern und von Predigtpulten durchgehend verbreitet wird. Womöglich ist die Glaubwürdigkeit der Kirche(n) unwiederbringlich durch Anbiederungen an die Machthaber verspielt. Vielleicht ist auch die fortschreitende Säkularisierungswelle dafür mitverantwortlich. Vielleicht ... Sicher ist aber, dass die Debatte über Migration erbarmungslos Defizite im kirchlichen sowie gesellschaftlichen Raum aufdeckt und das Öffentlichkeits-Christentum in Polen immer mehr ins Rituelle und Bedeutungslose abgleitet. Gott sei Dank, gibt es hier und da Hoffnungsschimmer, dass manches auch anders gehen kann. Noch ist Polen nicht verloren.
Dariusz Bruncz ist Publizist und freischaffender Journalist aus Warschau, Chefredakteur der ökumenischen Internetseite ekumenizm.pl, sowie DaF-Lehrer (Deutsch als Fremdsprache) an der TU Warschau.