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Palästinenser leiden doppelt unter Corona

Der lutherische Pastor Mitri Raheb aus Bethlehem hat die Staatengemeinschaft zu mehr Unterstützung für die Palästinenser in der Corona-Krise aufgerufen. Ein Interview

Mitri Raheb
Mitri Raheb, Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Weihnachtskirche in Bethlehem. Sie gehört zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land. Foto: Friedrich Stark/epd

Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Palästinenser aus?

Für Palästina, wie auch für Israel, spielt der Tourismus eine große Rolle. Für palästinensische Städte wie Bethlehem und Jericho, die völlig auf den Tourismus angewiesen sind, ist die Situation gravierend. In Bethlehem zum Beispiel arbeiten rund 37700 Menschen in der Tourismus-Branche, sie sind plötzlich, von heute auf morgen, arbeitslos geworden. Die erste Infektion in Bethlehem wurde am 5. März entdeckt, am ­gleichen Tag wurde alles für 83 Tage geschlossen. 

Der Tourismus wird wahrscheinlich zwei Jahre brauchen, bis er sich wieder erholt. In dieser Zeit werden die Menschen in Bethlehem und ­Jericho kein Einkommen haben. Zudem weiß man nicht, ob es eine zweite oder dritte Welle von Corona geben wird. Vor allem für die Christen, die sehr viel in den Tourismus in der Region investiert haben, zieht das katastrophale Folgen nach sich.

Gibt es finanzielle Hilfen vom Staat?

Nein, leider nicht, weil die palästinensische Regierung selbst auf ­Hilfen angewiesen ist. Der Staat hat in diesem Monat nicht einmal Geld, die Gehälter der Beamten zu zahlen. Daher kann er das nicht machen. Die Menschen wollen in dieser unsicheren Situation auch keine weiteren Darlehen aufnehmen.

Wie wirkt sich das auf das Leben aus?

Die Armut nimmt zu. Das merkt man zum Beispiel an unserer Dar-al-­Kalima-Hochschule für Kunst und Kultur in Bethlehem. Unsere Studierenden können selbst die niedrigen Studiengebühren nicht mehr bezahlen. Immer mehr Menschen müssen betteln, Depressionen nehmen zu, weil kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist. Niemand weiß wirklich, wann die Pandemie zu Ende sein wird, wann wieder Touristen zu uns ins Land kommen.

Wie stark sind die Palästinenser-Gebiete von Covid-19 betroffen?

Bei der ersten Welle gab es wenig Ansteckungsgefahr, weil die palästinensische Regierung beim Ausbruch des Virus Bethlehem und Umgebung abgeriegelt hat. Über diese drei Monate hinweg hatten wir um die 800 Infizierten, insgesamt vier Tote. Verglichen mit anderen Ländern schneiden wir besser ab, besser als Israel sogar.

Haben Sie andere Länder um Hilfe gebeten?

Die palästinensische Regierung hat bei den Vereinten Nationen, bei der WHO und anderen Ländern um Hilfe gebeten, um die Pandemie einzudämmen. Wir haben von einigen Kirchen in Deutschland und den USA kleine Hilfen bekommen. Aber die Not bleibt groß, unsere Hochschule zum Beispiel musste Leute entlassen, die Stundenzahl von anderen wurde reduziert, alle Mitarbeiter bekommen jetzt bis Ende August ein halbes Gehalt. Ohne diese schwerwiegenden Maßnahmen hätten wir nicht ohne weiteres überleben können.

Sie sind Mitautor des jüngst erschienenen Buches „The Double Lock Down: Palestine under Occupation and Covid-19“ (deutsch: „Die doppelte Ausgangssperre: ­Palästina unter Besetzung und Covid-19“). Darin beschreiben sie die besondere Belastung für das palästinensische Volk in der ­Corona-Krise. Wie sehen diese ­Belastungen aus?

Das Eingeschlossensein ist bei uns Palästinensern ja nicht nur eine Folge der Pandemie, es ist ein Dauerzustand unter der israelischen Besetzung. Eine Stadt wie Bethlehem ist von drei Seiten von einer acht Meter hohen Mauer umgeben. Das ist wie ein großes Gefängnis, ohne eine Genehmigung kann man nicht nach Jerusalem fahren.

Wie bewerten Sie die von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu für Anfang Juli angekündigte Annexion von Teilen des Westjordanlandes?

Sollte Israel die Annexion am 1. Juli (nach Redaktionsschluss) vollziehen, wäre das katastrophal. Alle Möglichkeiten für einen Frieden würden damit praktisch zunichte gemacht. Das ist rechtswidrig und eine gravierende Verletzung des ­internationalen Rechts. In anderen Ländern, wo vergleichbares geschehen ist, hat die Staatengemeinschaft mit Sanktionen nicht nur gedroht, sondern diese auch verhängt, etwa gegen Russland in der Krim-Krise im Ukrainekonflikt. 

Das sieht man jetzt auch in den USA. Es kann nicht sein, dass Weiße mehr Rechte haben und anders behandelt werden als Schwarze. Und das gilt, denke ich, auch für Israelis und Palästinenser. Zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben 6,5 Millionen Juden und 6,5 Millionen ­Palästinenser. Es geht nicht, dass die eine Gruppe 90 Prozent des Landes kontrolliert. Es geht nicht, dass die einen alle Rechte haben, die anderen rechtlos sind, die einen sich frei bewegen können, die anderen nicht.

Fühlen Sie sich als Palästinenser von der Staatengemeinschaft im Stich gelassen?
Manchmal schon. Ich denke oft, dass die Weltgemeinschaft nicht mit gleichem Maß misst. Israel wird immer anders behandelt, Israel ­bildet immer die Ausnahme. Wir als Palästinenser zahlen für diese Doppelmoral die Zeche, leider. Es gibt sehr viele jüdische Israelis, die das genauso sehen. Man muss diese jüdischen Stimmen der Mäßigung, des Ausgleichs und des Friedens stärken und nicht schwächen.

Das Gespräch führte Stephan Cezanne vom epd.

Mitri Raheb hat in Marburg promoviert und ist Gründer und Präsident der Dar-al-Kalima-Universität für Kunst und Kultur in Bethlehem. Er setzt sich seit Jahrzehnten für einen gerechten ­Frieden im Nahen Osten und eine ­Zwei-Staaten-Lösung für Israelis und Palästinenser ein. Für sein Engagement wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2015 mit dem Olof-Palme-Preis für internationale Verständigung.

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1. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
2. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.
3. Frieden? Gert Flessing Das Wort Frieden ist ziemlich abgenutzt. Nicht erst heute ist das so. Als ein gewisser britischer Premierminister einst in London davon sprach, den "Frieden für unsere Zeit gesichert zu haben", war das den Atem nicht wert, den er verschwendet hat.
Ist es heute besser? Ich hörte irgendwann mal was von einer "europäischen Friedensordnung". Selbst das war eine Illusion.
Und unter uns, im eigenen Land? Man mag in keine Diskussion eintreten, weil viel zu oft die Emotionen über die Vernunft siegen. In unserer Kirche ist es leider nicht sehr viel anders.
Sind wir nur noch Kirche für jene Menschen, die eine "richtige Gesinnung" haben? Wobei ich mehr und mehr daran zweifle, dass es jene Gesinnung sein soll, von der Paulus im Philipperbrief schrieb.
Wie soll da Frieden entstehen?
Aber wenn wir selbst nicht, in unserer Mitte, unter dem Kreuz und in der Hoffnung des leeren Grabes lebend, miteinander in Frieden sein können, wie wollen wir dann der "Welt" dazu helfen?
Viel zu oft, auch da, wo sich Kirche und Politik kreuzen, sehen wir den Splitter im Auge des anderen. Das sollte nicht sein. sonst können wir uns alles, was wir so von Frieden und Mitmenschlichkeit erzählen, sparen.

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