Von Sibylle Sterzik
„War das wiedermal stressig“, ruft mir Christian zu. Er betritt gerade mit seinem Vater, der sich auf den Rollator stützt, die Kirche. Während der ältere Herr sich tapfer zu seinem Stammplatz vorkämpft, erzählt mein Bekannter: „Wenn ich in unserem Mietshaus die Treppe herunter komme, steht meist die Mieterin parterre schon an ihrer offenen Tür, stemmt die Hände in die Hüften und schimpft: Sie haben meinen Schlüssel aus der Wohnung mitgenommen, als Sie vor kurzem hier waren! Aber natürlich habe ich ihren Schlüssel nicht angerührt.“
Unerkannte Demenz verursacht Ratlosigkeit
Christian ist wütend und ratlos. Vor allem ärgert er sich über die Mieterin. „Die ist verrückt! Was sollen bloß die Leute im Haus von mir denken, wenn sie mir im Treppenhaus so laut Vorhaltungen macht.“ Es ist ihm peinlich. Manchmal klingelt sie sogar oben an der Wohnungstür und sucht ihre Geldkarte. Aber auch die hat der Nachbar, grundehrlich wie er ist, nicht eingesteckt.
Als das Wort Geldkarte fällt, werde ich stutzig. Das kenne ich. Die Wohnung meiner an Demenz erkrankten Mutter habe ich oft auf den Kopf gestellt, bis ich endlich ihre Bankkarte fand. Ich kramte in Schubladen und kroch unter das Bett. Dabei prasselte eine Schimpfkanonade auf mich nieder. Mit verfinstertem Gesicht empörte sich die sonst so liebe ältere Dame, dass ich ihr die Karte entwendet und das ganze Bargeld abgehoben hätte.
Der herbeigeschaffte Kontoauszug besänftigte sie zwar. Dasselbe wiederholte sich aber immer wieder.
„Könnte es eine beginnende Demenz sein, die diese Mieterin so misstrauisch werden lässt in letzter Zeit?“ Christian war zu sehr mit seinem eigenen Ärger beschäftigt gewesen, als dass er sich über die Mieterin Gedanken gemacht hätte. Wie auch?
Demenz im eigenen Treppenhaus?
Wer kennt schon das Erscheinungsbild von Demenz aus eigenem Erleben? Viel ist darüber zu lesen und zu hören in den Medien. Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger zum Beispiel setzte in seiner 2011 im Carl Hanser Verlag erschienenen Erzählung „Der alte König in seinem Exil“ seinem an Alzheimer erkrankten Vater ein charmantes Denkmal. Aber Demenz im eigenen Treppenhaus? Das ist oft wenig lustig. Für den Betroffenen nicht und für die Mitbewohner auch nicht. Darum haben es alle Seiten nicht leicht.
Christian wird jetzt auch stutzig. An so etwas hatte er natürlich nicht gedacht. Er will versuchen, Angehörige anzusprechen. Aber die Mieterin bekommt fast nie Besuch, ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben, der Neffe wohnt weit entfernt, eine Telefonnummer gibt die Mieterin bestimmt nicht heraus, vermutet er. Vielleicht helfen der medizinische Dienst oder ein Pflegestützpunkt?
Wenige Tage später ruft er mich wieder an. Die Mieterin habe wegen starker Schmerzen im Fuß geklingelt. „Ruf den ärztlichen Bereitschaftsdient an“, rate ich ihm. Der kommt ins Haus. Und ich empfehle ihm noch, dem Arzt zu erzählen, dass die Vergesslichkeit und Aggressivität der Mieterin in letzter Zeit zunehmen. Vielleicht weiß er, ob es eine Möglichkeit gibt, die Mieterin zu bewegen, sich in ärztliche Behandlung zu bewegen.
„Ich bin keine Maus, ich bin Deine Mutter!“
Wer macht das schon, vor allem, wenn einem selbst das veränderte Verhalten gar nicht bewusst ist? Natürlich sind wir beide keine Mediziner, nur Hobbypsychologen, aber ansprechen kann man es ja mal.
Wenig später erzählt Christian, der Arzt habe nichts am Fuß feststellen können und sei nur kurz bei der Mieterin gewesen. „Hast Du ihn auf die Demenz angesprochen?“ „Als der Arzt bei uns klingelte, weil ich dort angerufen habe, nahm ich ihn beiseite, und sagte ihm, die Mieterin sei ein wenig ...“ Dann macht er eine kreisende Handbewegung vor seiner Stirn, die wohl sagen sollte „ein wenig meschugge“. Mir fällt beinahe die Kinnlade herunter. Doch ich beherrsche mich. Abfällige Bemerkungen helfen von Demenz betroffenen verunsicherten Menschen am allerwenigsten.
Zeige ich meiner Mutter, dass ich sie sehr lieb habe, spürt sie ganz genau, was ich ihr sage. Ihre Augen strahlen, sie lächelt selig. Wie neulich. Nach einem Café-Besuch im Seniorenheim ist sie erschöpft. Sie läuft trotzdem tapfer über den Hof den Weg wieder zurück. Im Zimmer setzt sie sich gleich auf ihr Bett und sagt bestimmt: „Ich geh keinen Schritt mehr!“ „Du bist aber auch toll gelaufen, meine Maus“, lobe ich sie und drücke sie sanft an mich. Darauf sie: „Ich bin keine Maus. Ich bin Deine Mutter!“ Beide lachen wir los.
Ein anderes Mal verabschieden wir uns nach einem schönen Nachmittag. „Was wollt ihr zu Hause, wenn ihr mich habt?“, fügt sie keck hinzu. Und lacht schallend. „Wer mich liebt, holt mich hier weg“, entgegnet sie. Recht hat sie. Aber das liegt jenseits meines Vermögens. Ich besuche sie, sooft ich kann. Und versuche ihr zu zeigen, wie sehr sie mein Leben geprägt hat und mir wichtig ist. Vermutlich wird sie das Zimmer im Seniorenwohnhaus aber nie ganz als ihr Zuhause akzeptieren.
Mit Christian bleibe ich im Gespräch. Vielleicht kann ich ihn darin unterstützen zu lernen, die Perspektive zu wechseln, weg von ihm, hin zu seiner Mitbewohnerin.