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„Versprichst du mir, dass du mich nicht allein lässt?“

Mutter wartet im Heim. Warum Menschen mit Gedächtnislücken Kontakte und die Welt draußen besonders brauchen. Ein Erlebnisbericht.

Corona Besuch Pflegeheim
Nachdenklich am Grab des vor 13 Jahren verstorbenen Ehemannes.

Von Sibylle Sterzik

Sie fragt nie, wozu sie einen Maske tragen soll. Auch nicht, wenn eine in ihr Zimmer kommt. Keine geschockte ­Reaktion, wenn der Mund- und Nasenschutz mitten im ­Gesicht sitzt. Wie vieles andere nimmt sie es einfach hin hier im Heim in ­Corona-Unnormalität. Ein großes Stück Großmut, dass mit zunehmendem Alter größer wird. 

Anneliese hat Alzheimer-Demenz. Die 87-Jähre lebt im ­Augenblick. Der zählt. Mehr speichert die Gedächtnisdatenbank nicht mehr. Zeitebenen rutschen ineinander wie Achterbahnen. Eben noch will sie los zur Schule oder zur Christenlehre, die sie geben muss, dann wieder wartet sie auf ihren ­Bruder, der gleich kommen wird. Vor über 40 Jahren haben wir ihn begraben. 

Lasse ich sie im Heim zurück, wenn ich gehe, gefällt ihr das nicht. Sie will mit nach Hause kommen. Aber wo ist Zuhause? Auch wenn Schwestern und Pfleger sich rührend um Anneliese kümmern – das hier ist es nicht. Ihre Mutter wisse doch gar nicht Bescheid und werde sich Sorgen machen, wo sie bleibe, protestiert sie. Der Pfleger hört mit einem Ohr mit, winkt ­umsichtig von weitem rüber und ruft: „Ich rufe sie gleich an.“ Mutter nickt dankbar und lehnt sich beruhigt in ihrem Sessel im Wohnbereichs-Foyer zurück. Ich kann gehen. 

Früher war sie Katechetin, schmiss den Pfarrhaushalt, bekochte Mann und vier Kinder, buddelte im großen Pfarrgarten, radelte munter über Land zur Christenlehre in die Außen­stellen der Gemeinden. Heute ist der Wohnbereich im Seniorenzentrum ihre Rennstrecke. Alle kennen sie, mögen ihr herzliches Lachen und ihre glockenklare Singstimme. „Versprichst du mir, dass du mich nicht vergisst?“, fragt sie zum Abschied. Dann schaut sie mich fragend an und ich antworte: „Wie könnte ich!“ Wir lachen wir beide, obwohl ich weiß, sie wird am Mittwoch sagen, ich sei so lange nicht da gewesen. 

Im Frühjahr, als das Heim wegen des ersten Lockdowns dicht machte, war deutlich zu spüren, wie ihre Mobilität und ihre Unbeschwertheit abnahmen, wie sie körperlich abbaute. Seitdem besuche ich sie öfter als sonst. Sie erkennt mich immer, auch wenn nur die Augen über dem Gesichts-Visier rausgucken.  

Jeden Tag habe ich Angst, dass das Telefon klingelt und einer sagt, es sei etwas mit meiner Mutter. Oder dass Besuche nicht mehr erlaubt sind. Obwohl das ja zu ihrem Schutz wäre. Auch um das Heim macht Corona keinen Bogen. Menschliches Versagen? Niemand weiß, wo die Viren durchschlüpfen. Streckt Anneliese ihre Hand nach mir aus, soll ich sie abwehren? Und wie erklären? Berühren verboten? Ich nehme kurz ihre Hand in meine. Und schütze sie mit Handschuhen. Aber bin ich frei von Viren und ist es die künstliche Haut? Bei jedem Besuch zweifle ich. Nähe geben und Abstand halten – ein Tanz auf dem Grat. 

Zum Ewigkeitssonntag hole ich sie zur Friedhofsandacht ab. Lange habe ich überlegt, ob ich das machen kann. Viele ­Menschen besuchen an diesem Tag die Gräber ihrer Lieben. Ich wage es, packe sie dick ein und stecke eine FFP2-Maske ein. 

Die Tür zur Kapelle ist halb geöffnet. Ich schiebe den Rollstuhl davor. Die sechs oder sieben Stufen nach oben – unüberwindlich. Bis sich ein Mann quer vor die Eingangstür stellt, sieht sie die entzündeten Kerzen drinnen leuchten. Eine Frauenstimme erklingt, ihr Gesang dringt leise nach draußen. „Heilig, heilig, ­heilig, heilig ist der Herr“, flüstert Anneliese auf einmal, als ich mich zu ihr herunterbeuge. Ich beiße mir auf die Lippen. 

Später erklingt der Bläserchor, er hat sich zum Glück draußen aufgebaut. Choräle, Jazz, Getragenes. Mutter hat jetzt die Maske auf und hört still zu. Etwas dringt tief in sie ein, das ihre Seele berührt. „Ich finde es einen schönen Brauch, dass sie so etwas hier machen. Dass die Leute an so einem Tag hierher kommen“, sagt sie auf einmal leise, aber ganz klar. „Danke, dass ihr mich mit hier raus genommen habt.“ Als ich ihr die Maske abnehme, meint sie: „Jetzt kann ich wieder besser hören.“ ­

Wir lächeln uns an. Ich weiß, dass sie etwas anderes meint. An Vaters Grab entzünden wir noch das große Grablicht. Sie sei lange nicht hier gewesen, sagt sie und entziffert aufmerksam den Namen auf dem Grabstein. „Das ist dein holder Ehegatte und unser Vater“, sage ich, als ich ihr fragendes Gesicht sehe. 

Im Heim zurück, erfahre ich: Weihnachten wird es auf dem Wohnbereich keine große Tafel geben wie sonst. 2019 fiel das auch aus. Zu viele krank, zu wenig Personal. Diesmal Corona. Die Zahl der Besuchenden, die zur selben Zeit auf dem Wohnbereich sein dürfen, soll aber großzügig ausfallen. Rechtzeitig anmelden sei aber ratsam. Und wenn ich keinen Termin bekomme? Ich winke innerlich ab. Wann Weihnachten ist, weiß Mutter nicht so genau. Hauptsache, ich kann bei ihr sein. ­Darauf wartet sie immer. „Du sagst mir Namen und Worte, die ich schon ganz vergessen hatte. Dann weiß ich wieder, wie mein Bruder heißt und unsere Heimatstadt“, sagt sie. „Das wissen die anderen nicht.“ Ein Grund mehr herzukommen. Mein ­Gedächtnis holt ihr offenbar ein Stück ihres Lebens zurück.

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1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

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