Zur Hauptnavigation springen Zur Suche springen Zum Inhalt springen
RSSPrint

„Westpfarrer“ wollte er nie werden

32 Jahre war er Gemeindepfarrer in St. Bartholomäus im Berliner Kirchenkreis Stadtmitte. Nun geht Joachim Goertz in den Ruhestand. Ein Wegbegleiter erinnert sich an wichtige kirchenpolitische Stationen seines beruflichen Lebens

Pfarrer Joachim Goertz in „seiner“ Kirche, St. Bartholomäus in Berlin-Friedrichshain. Foto: Rolf Zöllner

Von Andreas Bertram

„Ich habe mein ganzes Leben nur in Pfarrhäusern gelebt und jetzt in einer Wohnung“, sagt Esther-Marie Ullmann-Goertz in der gerade frisch bezogenen, nicht sehr großen Dachgeschosswohnung in einem dieser zweckmäßigen und makellosen Neubauten in Berlin-Weißensee. Da sich aber das gewohnte wohlriechende Zigarettenaroma des Neuen schon bemächtigt hat, stellt sich das Altvertraute auch hier sogleich ein. 

Die Theologin ist die Ehefrau von Joachim Goertz, seit dem 1. September 1989 Pfarrer an der St. Bartholomäuskirche in Berlin-Friedrichshain, gegenüber dem Evangelischen Zentrum. Nun geht er in den Ruhestand und so haben sie, wie es Sitte ist, das Pfarrhaus verlassen.

Jochen – so sein Rufname – und Esther sind zusammen, seit sie gemeinsam die Schulbank in Naumburg als Schüler des Katechetischen Proseminars drückten. Hier konnten Jugendliche die nur innerkirchlich anerkannte Hochschulreife für das Theologie­studium erlangen. Abitur zu machen an der Erweiterten Oberschule war den beiden verweigert worden. Jochen sollte Dachdecker oder Schornsteinfeger werden. 

Ein Dozent forderte von Goertz vor dem Übergang zum Haupt­studium, er müsse jetzt erst einmal seine „kirchliche Sozialisation“ nachholen. Denn Jochen war anthroposophisch in der Weimarer Christengemeinschaft getauft, dann mit 16 in einer evangelischen Gemeinde konfirmiert. Die evange­lische Taufe wurde dann während des nun folgenden Gemeindepraktikums 1976 im Thüringischen Ebeleben „nachgeholt“. Es war das Jahr der Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz und der Ausbürgerung von Wolf Biermann. Goertz schrieb heimlich im Gemeindebüro des ansonsten leerstehenden Pfarrhauses auf der Gemeindeschreibmaschine Protestbriefe und Flugblätter.

Oasen humanistischer Bildung und geistiger Freiheit


Die drei kirchlichen Hochschulen in Berlin, Leipzig und Naumburg waren Oasen der humanistischen Bildung und geistigen Freiheit. Gerade diesem Jahrgang, der durch die Bier­mann-Ausweisung und den öffent­lichen Suizid von Brüsewitz so geprägt war, haben wir als Evangelische Kirche viel zu verdanken. Jochens Kommilitone Günther „Aljoscha“ Schau reiste als Student durch die DDR und fotografierte deren Gefängnisse heimlich von außen. Er erstellte eine illegale Dokumentation über die Ausbürgerung des oppositionellen Lieder­machers Wolf Biermann und über den Strafvollzug, in dem er schließlich selbst landete. 

Im Zusammenhang mit diesen Protesten nach der Biermann-Ausbürgerung erfolgte nach der Stasihaft die Ausbürgerung des jungen Jenaer Schriftstellers Jürgen Fuchs und von großen Teilen der aktiven Jungen Gemeinde von Jena-Stadtmitte um ihren Jugenddiakon Thomas Auerbach.  Ebenso  Dichter und Musiker der legendären Leipziger Renft-Combo, Gerulf Pannach und Christian Kunert, und viele andere Weggefährten mussten die DDR verlassen.

Naumburger Theologiestudenten beschlossen, sich während der Haftzeit der Inhaftierten um die auf freiem Fuß verbliebene Angehörigen zu kümmern, Geld zu sammeln, sie zu unterstützen. Jochen Goertz übernahm dies für Amrei Pannach in Leipzig. Mit ihr und Gerulf verband ihn dann eine lebenslange Freundschaft.

Ehemalige Naumburger waren es auch, die im Wittenberger Predigerseminar die Gründung des „Arbeitskreises Solidarische Kirche“ (AKSK) seit 1984 vorantrieben. Dieser 1986 gegründete DDR-weite Arbeitskreis verstand sich als Pfarrervertretung und als politische Opposition, die die Konflikte in Kirche und Gesellschaft wirklich sichtbar machen wollte. 

Jochen und Esther Goertz waren von Anfang an dabei, gemeinsam mit Marianne Birthler, Cornelia und Thomas Seidel, Freya Klier, Katrin Göring-Eckart, Herbert Schneider, Edgar Dusdal, Dorothea Höck, Martin König, Uwe Lehmann und anderen. 

Eines der wichtigsten oppositionellen Papiere entstand in einem Arbeitskreis der Bartholomäus­gemeinde, nachdem der Vikar Reinhard Lampe nach einer Protest­aktion anlässlich des 25. Jahrestages des Mauerbaus nackt am Fensterkreuz in der Oderberger Straße hängend am 13. August 1986 verhaftet worden war.

Ein Papier und sein Weg


Hans-Jürgen Fischbeck, Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß, Stephan Bickhardt und Ludwig Mehlhorn – allesamt Theologen, Bürgerrechtler und DDR-Oppositionelle – sowie die DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe waren einige der Akteure des sich nun bildenden Gesprächskreises. 

Der Kreis, der eines der wichtigsten Papiere der DDR-Demokratiebewegung verfasste. Titel: „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“. Heino Falcke, von 1973–1994 Propst in Erfurt, einer der wichtigsten Theologen in Ostdeutschland, brachte es auf der 1987 in Görlitz tagenden Herbstsynode des Bundes der Evangelischen Kirche in der DDR (BEK) ein. Nicht zuletzt mit Hilfe des Ministeriums für Staatssicherheit wurde es in Ausschüssen klein gehalten, wie schon zuvor auf der Frühjahrssynode 1987 der DDR-Landeskirche, der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (EKiBB). Aber daraus entstand als ein wichtiges Momentum für das spätere „Bündnis 90“, die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“. Der Arbeitskreis Solidarische Kirche hatte eng mit der Initiativgruppe des „APPA“-Papieres und dem Gemeindekirchenrat der Bartholomäusgemeinde zusammengearbeitet.

Jochen Goertz wollte nie „Westpfarrer“ werden und erklärte: „Aber man wird auch älter und weiser und altersstarrsinniger.“ Fast 33 Jahre war er dann ein „Westpfarrer“, die er an der Bartholomäuskirche  verbrachte. Zu 70 Prozent tauschte sich die Bevölkerung in seinem Kiez seit 1989 aus. Dies wirkte natürlich auch auf die Gemeindearbeit. 

Als ich 1997 als Vikar bei Jochen Goertz anfing, war meine erste Veranstaltung der Besuch eines Biermann-Konzerts in der Kulturbrauerei mit der Jungen Gemeinde. Der Pfarrer hatte Karten besorgt. Die Gemeinde verhandelte in dieser Zeit hart um ihre „Baracke“ auf dem Missionsgelände, denn dort wollte die EKiBB ihr neues Konsistorium bauen. Das steht nun und dafür wurde auch die Bartholomäuskirche saniert und kann heute als Synodenkirche genutzt werden. 

Aufregende Zeiten in der Bartholomäusgemeinde


Es gab Anwohnerproteste, Goertz und sein Vikar mussten in Versammlungen erscheinen. Die Bewohner, die zuhauf im „Staatsapparat“ der DDR gearbeitet hatten, kamen aus den Plattenbauten neben der Kirche. Sie fürchteten um ihre Parkplätze, die Kirche wohl auch.

Der Friedhof in Berlin-Weißensee, Verwalterhaus, Kapelle und Wirtschaftsräume wurden saniert. Es gab Lesungen, Neujahrsempfänge, Konzerte mit John Cage oder dem Kirchenmusikdirektor Wolfgang Fischer. Ein Highlight auch die Fotoausstellungen zur Friedlichen Revolution, zu deren 30. Jahrestag 2019 eine ganze thematische Festwoche große Aufmerksamkeit fand unter dem Motto: „Kirche als Lernort der Demokratie“. Darüber hinaus Festwochen zum 140. und 150. Gründungstag der Gemeinde – 1994 und 2004 – waren bewegend. Genau wie die vielen, vielen originellen Begegnungen und Predigten. 

Jochen Goertz kritisiert in heutiger Zeit – Karl Barth zitierend – eine „Flucht in die Öffentlichkeit“ seiner Kirche angesichts so manch rascher „aktueller“ Stellungnahme, die doch so viele andere unserer Tage schon abgegeben haben. Und diese Kritik kommt von einem, dessen Name auf der ersten, versteckten, Gründungsurkunde der SDP von 1989 steht, falls in Schwante alle verhaftet werden sollten. Aber er war in Magdeburg bei der Vollversammlung des Arbeitskreises „Solidarische Kirche“, wo mit Datum vom 8. Oktober 1989 ein offener Brief an das Zentralkomitee der SED verabschiedet wurde, der mit einem Zitat beginnt: „Wir, die so viel wie Sie wert sind und zusammen mehr als Sie sind – stehen zu Ihnen als unserem König und Herrn, vorausgesetzt, dass Sie unsere Rechte und Freiheiten wahren. Wenn nicht, dann nicht. (Aragon 15. Jahrhundert).“ Und wenn man auf dem Mittelstreifen „Unter den Linden“ vor der Russischen Botschaft bei einer Protestdemo steht, so kann man sicher sein, dass Jochen da ist.

Ein guter Pfarrer und Freund


Als er 1976 die Erwachsenentaufe empfing, wählte er in diesem Jahr der politischen Repression und Resignation gerade deshalb dieses Taufwort aus dem Buch Esther: „Ich will hineingehen in das Haus des Königs. Komme ich um, so komme ich um.“ Ein guter Pfarrer und Freund, dem seine Kirche, sein Glaube und die ihm anvertrauten Menschen immer lieb und teuer waren. Von dieser Zuversicht, von dieser Freundlichkeit, Zugewandtheit und Mitmenschlichkeit, brauchen wir noch viel mehr!

Gottesdienst zur Verabschiedung von Pfarrer Joachim Goertz mit dem Superintendenten des Kirchenkreises Berlin-Stadtmitte, Bertold Höcker, am 23. Januar um 14 Uhr in der Bartholomäuskirche in Berlin-Friedrichshain. 

Der Autor:
Andreas Bertram ist Pfarrer im Pfarrsprengel Markersdorf-Königshain bei Görlitz. Er war seit Frühjahr 1987 Mitglied im Arbeitskreis Solidarische Kirche und 1997 Vikar in der Bartholomäuskirche bei Jochen Goertz.

Zum Weiterlesen:
Joachim Goertz (Hrsg.), Die Solidarische Kirche in der DDR. Erfahrungen. Erinnerungen. Erkenntnisse, Basisdruckverlag, Berlin 1999, 370 Seiten, 9,80 Euro

Artikelkommentar

Artikelkommentar
captcha
Bitte tragen Sie das Ergebnis der Rechenaufgabe in das Feld ein.
Hinweis: Die von Ihnen ausgefüllten Formulardaten werden lediglich für die Zwecke des Formulars genutzt. Eine andere Verwendung oder Weitergabe an Dritte erfolgt nicht.

Artikelkommentare

(3) Artikel Name Ihr Kommentar
1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

Hier gelangen Sie zur Übersicht über alle Kommentare.