Von Susanne Atzenroth
Burghard Sültemeyer erlebte eine unbeschwerte Kindheit am Elbdeich. Familie und Freunde waren seit Generationen Bauern in der Lenzerwische in der Prignitz. An den Morgen des 3. Oktober 1961, als die Polizisten an die Tür klopften, kann er sich noch genau erinnern. Er war acht Jahre alt und packte gerade in seinem Zimmer den Ranzen für die Schule. Plötzlich füllten verzweifelte Schreie und Schluchzer seiner Mutter das Haus. Die Beamten in Zivil hatten seinen Eltern soeben ein Schriftstück vorgelesen, nach dessen Wortlaut sie eine „Gefahr für Ordnung und Sicherheit im Grenzgebiet“ darstellten – mehr erfuhren sie nicht.
Innerhalb von drei Stunden hatte die Familie Haus und Hof zu verlassen. Für das, was sie in dieser Zeit zusammenpacken konnten, standen Lastwagen zum Abtransport bereit. Der junge Burghard griff seinen Schulranzen und steckte noch ein Radio hinein, das weiß er genau. Dann brachten die Fahrzeuge die aufgelösten Eltern und ihr schnell zusammengepacktes Hab und Gut in ein 150 Kilometer entferntes Dorf in Mecklenburg, nach Klein Grenz.
„Aktion Ungeziefer“ hießen die Zwangsumsiedlungen
Die Erinnerung daran ist auch heute – nach fast 50 Jahren – so präsent, dass sie ihm die Tränen in die Augen treibt. Mehr als 10000 Menschen im Sperrgebiet entlang der Elbgrenze der DDR wurden zwischen 1952 und 1961 in generalstabsmäßig geplanten Operationen gewaltsam ins Hinterland umgesiedelt. Decknamen dafür waren „Aktion Ungeziefer“ und „Aktion Kornblume“.
Die erste Nacht in Klein Grenz mussten sie auf Stroh in einer Scheune schlafen, ihre Möbel standen unter einer Plane draußen auf dem matschigen Hof. Dafür hatten die Eltern von Burghard Sültemeyer schon am ersten Tag zur Arbeit in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) zu erscheinen. Dann kam sein Vater ins Gefängnis – unter dem reetgedeckten Dach ihres Bauernhauses sei angeblich Munition versteckt gewesen.
„Zu Zeiten der DDR durften wir nicht über das erlittene Unrecht sprechen. Wir erfuhren erst nach der Wende, wie viele Menschen wie wir betroffen waren“, erzählt Burghard Sültemeyer. „Manchmal wurden wir wie Verbrecher behandelt“, erinnert er sich. Einer seiner Lehrer habe ihm jeden Morgen einen Schlag auf den Kopf gegeben, die Mitschüler grenzten ihn aus. Erst als die Familie 1965 einen Bauernhof im havelländischen Großderschau erwarb, wo bereits andere Familienangehörige lebten, bekam ihr Leben wieder eine gewisse Normalität. Burghard Sültemeyer machte eine Ausbildung zum „Mechanisator für Landwirtschaft“ und arbeitet mit Begeisterung als Busfahrer, 30 Jahre war er Mitglied im Gemeindekirchenrat, sang im Chor und spielte mit bei den Bläsern.
Das Gefühl der Bedrohung verlor er bis zum letzten Tag der DDR nicht. Doch auch im wiedervereinigten Deutschland blieb ihnen die Anerkennung des erlebten Unrechts lange verwehrt. „Die Zwangsumsiedlungen waren im Einigungsvertrag nicht geregelt“, so Burghard Sültemeyer. Zehn Jahre schrieb er Anträge und beteiligte sich an Sammelklagen, bis die Familie ihre Ländereien in Mödlich zurückerwerben konnte. Für seinen Vater erstritt er mühsam die Rehabilitierung und eine Entschädigung von 8000 Euro.
Trost fand Burghard Sültemeyer schon immer in der Musik und der plattdeutschen Sprache. Beides verbindet er, wenn er mit selbstübersetzten plattdeutschen Schlagertexten auf Geburtstagsfeiern auftritt.