Diakonie an einem geschichtsträchtigen Ort. Eine Ausstellung für alle.
Auf dem ehemaligen Gut Reichenwalde im Kirchenkreis Oderland-Spree befinden sich Wohnstätten und eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal. In diesem Jahr feiern sie das 100-jährige Bestehen als diakonische Einrichtung mit mehreren Veranstaltungen. Auch eine Ausstellung zur Geschichte des Orts ist dort zu sehen. Ein Besuch.
von Jan-Olav Straakholder
Reichenwalde. „Einfach alles wollte sie wissen, wie wir hier gelebt haben, wie die Anziehsachen waren und wo wir diese gekauft haben“, so beschreibt Michael Proske seine bisher eindrucksvollste Führung. Ein junges Mädchen besuchte im Rahmen der „Langen Nacht der Museen“ Reichenwalde, um dort die Ausstellung zum 100. Jubiläum über die ereignisreiche Vergangenheit der Wohnstätte zu besuchen.
Die Ursprünge von Reichenwalde reichen zurück bis zum 28. Juni 1925, als der Verein Hoffnungstal die neu gegründete Arbeitskolonie zwischen Storkow und Bad Saarow feierlich einweihte. Heute leben 77 Menschen in der diakonischen Einrichtung, 60 Kilometer südöstlich von Berlin. Darunter Bewohner mit geistigen Beeinträchtigungen, psychischen Erkrankungen und solche, die eine betreuungsärmere Wohnform bevorzugen.
Michael Proske, Gerd Falkner, beide als Bewohner Reichenwalde verbunden, und Josephine Werner, Projektleiterin von „100 Jahre Reichenwalde“, haben sich zusammengeschlossen, um die Geschichte des Orts der Öffentlichkeit zu präsentieren. Falkner und Proske führen durch die Ausstellung. Im Vordergrund steht die Biografiearbeit. Aus vorangegangenen Ausstellungen gab es kuratorisches Wissen, auf das sie aufbauen konnten. Und doch: Zu Beginn des Projekts wussten alle nicht so ganz, wie es funktionieren kann. „Wir sind ins kalte Wasser geworfen worden“, sagt Gerd Falkner.
Zeitzeuge seit 1969 aktiv an der Ausstellung beteiligt
Seine Rolle in dem Projekt ist eine entscheidende. Denn Gerd Falkner weiß, wie es damals gewesen ist. Er ist Bewohner seit 1969. Scherzhaft sagt er auch mal zu Josephine Werner: „Du weißt ja gar nicht, wie es damals gewesen ist.“ Spaß und Humor sind ein wichtiger Teil ihrer Zusammenarbeit.
Gute und schlechte Zeiten
Seit 1969 lebt Gerd Falkner in Reichenwalde. Mit dem Traum vor Augen, dort einen Beruf erlernen zu können, ging es aus einem Kinderheim raus aufs Land. Dort gab es zwar Kühe und Schweine, aber keine berufliche Perspektive. Viel zu arbeiten gab es dennoch, denn sie waren Selbstversorger.
Die Unterbringung in Reichenwalde war damals einfach. 25 Bewohner teilten sich einen Schlafsaal. Erst zu Beginn der 90er-Jahre änderte sich dies. Es wurde in sanitäre Anlagen investiert und man teilte sich zu zweit ein Zimmer. „Es gab gute und schlechte Zeiten“, blickt Gerd Falkner zurück. „Aber“, fährt er fort, „wir hatten die beste Milch.“
Biografien der Bewohner stehen im Mittelpunkt
Josephine Werner hat sich zum Ziel gesetzt, die Geschichten der Menschen in den Fokus zu stellen. Im ersten Teil der Ausstellung können die Besucher*innen die Geschichte von Lobetal, wie es zu Zeiten der Gründung hieß, anhand von mehreren Texttafeln erfahren. Sie beginnt im Jahr 1905 als Ort für Menschen ohne Bleibe, für Arbeits- und Obdachlose. „Arbeit statt Almosen“ lautete das damalige Motto. Im ersten Teil der Ausstellung steht die Geschichte der Wohnstätten während des Zweiten Weltkriegs, in der DDR und zur Wiedervereinigung im Mittelpunkt. Auch der Weg von der Anstalt hin zur Stiftung wird thematisiert.
Im zweiten Ausstellungsteil betreten Besucher*innen einen Raum, in dem historisches Mobiliar und Arbeitsmaterial zu sehen sind. Auch Interviews von Zeitzeugen erzählen von früher. „Unser Ansatz war, den Menschen, die Reichenwalde geprägt haben, Stimme und Bild zu geben“, sagt Frank Tschentscher, Teil der Verbundleitung Süd-Ost Brandenburg.
Erinnerung und Mahnung
Eine dieser Geschichten handelt von Herrn Weile. Dieser suchte damals Schutz vor den Nazis. Erst in Niedersachsen, dann bei seiner Schwester in Berlin und schließlich in Reichenwalde. Doch die Nazis spürten ihn in Reichenwalde auf und deportierten ihn nach Warschau, wo er wahrscheinlich ums Leben kam. Eine von vielen Lebensgeschichten, die dem Vergessen entrissen und als Mahnung für künftige Generationen bleiben sollen. Vor diesem Hintergrund sind künftig auch Führungen durch die Ausstellung für Schulklassen geplant.
Michael Proske lebte von 1989 bis 1995 in Reichenwalde. Heiratete dort sogar. Früh eckte er an. Er erzählt, dass es nicht immer einfach war. Spricht über Probleme mit dem Lohn, über Meinungsverschiedenheiten mit dem Hausvater oder der Hausmutter.
Je länger man dem großgewachsenen Mann zuhört, umso deutlicher merkt man aber auch, wie wichtig ihm der Ort, seine Menschen, die Arbeitskollegen und die Ausstellung sind. Und das Thema Inklusion. Er wünscht sich, dass die Ausstellung viele Besucher*innen hat. So wie das junge Mädchen mit den vielen Fragen.
Mehr Inklusion
Ihre Frage zur Kleidung beschäftigt ihn noch immer. Er erzählt, dass sie ihnen damals entweder gekauft wurde oder sie in einen speziellen Laden für Menschen mit Beeinträchtigung gingen. Rein in den Laden, Anprobe und wieder zurück in die Wohnstätte. Die Möglichkeit, Menschen aus dem Ort kennenzulernen, hatten sie nicht. Darauf möchten sie mit der Ausstellung auch hinweisen: auf die Bedeutung von Inklusion. Auf die Idee von Einrichtungen, in denen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen gemeinsam wohnen und leben. Bisher gab es nur positives Feedback für die Führungen durch die Ausstellung. Für die Projektverantwortlichen ist wichtig, dass die Ausstellung Startpunkt für einen Dialog wird, der nicht am Ausstellungsort verharrt.
Weitere Informationen zur Ausstellung
Alle Termine im Festjahr „100 Jahre Wohnstätten Reichenwalde“ unter: www.kirche-oderland-spree.de/b/100-jahre-reichenwalde-187046.
Die Ausstellung kann nach Terminvereinbarung mit Josephine Werner besichtigt werden. Telefon: 033631/857 17, E-Mail: j.werner2@lobetal.de. Ausstellungsort:
Wohnstätten Reichenwalde, Schloss Reichenwalde, DahmsdorferStr. 6, 15526 Reichenwalde