Im Mai 2004 gab Friederike von Kirchbach ein Buch zur Zukunft der Kirche heraus. Die Pfarrerin war gerade zur Pröpstin der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz gewählt worden. Sie bat 20 Autorinnen und Autoren, ihre Visionen für eine Kirche im Jahr 2025 aufzuschreiben. Haben sie sich erfüllt? Das fragt sie heute, 20 Jahre danach.
Berlin. Kirche im Jahr 2025. Das war zur Entstehung der Texte 20 Jahre weit weg, eine lange Zeit. Jetzt sind wir in dieser Zukunft, im Jahr 2025. Eine Erkenntnis lässt sich für alle Aufsätze festhalten: Wir sind längst noch nicht so weit, wie wir damals gedacht haben! Rückblickend erscheint es mir so, als ob wir als Kirche uns damals besonders intensiv nach der Zukunft der Kirche gefragt haben. Es war die Zeit der Reformpapiere und damit eines Willens zur Veränderung, zum Aufbruch, nachdem die 1990er Jahre sehr komplexe Anpassungsprozesse zumindest für die Menschen und Institutionen der ehemaligen DDR gebracht hatten. Es gab die Notwendigkeit, die Strukturen einer kleiner werdenden Kirche anzupassen. Ehrenamt sollte gestärkt werden, hauptamtliches Personal zukünftig zielgerichtet und seiner Funktion gemäß eingesetzt werden. Investition in Bildung wurde großgeschrieben. Evangelische Schulen galten als große Chance, christliches Grundwissen und protestantisches Profil im Land zu stärken. Kirche und Diakonie sollten näher zusammenrücken. Es bestand die Hoffnung, dass durch eine Bündelung der Kräfte der Schrumpfungsprozess aufgehalten, verlangsamt und vielleicht sogar gestoppt werden könnte.
Mitgliederschwund kam schneller und dramatisch.
„Ich freue mich auf den Vergleich mit der Wirklichkeit des Jahres 2025“, schrieb ich 2006 ins Vorwort. Hier ist nun der Vergleich. Nach dem Lesen heute musste ich erst einmal feststellen, dass 20 Jahre keine lange Zeit sind. Grundsätzlich haben alle Texte erst einmal eine positiv-optimistische Grundstimmung. Die einzelnen Artikel sind so unterschiedlich, dass sich eine allgemeine Aussage oder Vision für alle nicht findet. Ich habe mich entschieden, einige der Autor*innen von damals nach ihrem heutigen Blick zu fragen. Das breiteste Spektrum an Zukunftsthemen nimmt Heinz-Joachim Lohmann auf, damals Superintendent des Kirchenkreises Wittstock-Ruppin (https://www.kirche-wittstock-ruppin.de/). Heute ist er stellvertretender Direktor der Evangelischen Akademie zu Berlin (https://www.eaberlin.de/) und Studienleiter für Demokratische Kultur und Kirche im ländlichen Raum. Mit seinem Kirchenkreis ist er viele der von ihm angesprochenen Fragen angegangen. Schon damals war er sich bewusst, dass „wir 2025 noch längst nicht so weit sind, uns eine zukunftsfähige Kirche zu nennen“. Heute sagt er: „Der Rückgang an Gemeindegliedern war schneller und traumatischer als die schlimmsten Befürchtungen. Entgegen den Projektionen sind die Finanzen einigermaßen stabil geblieben. Immer noch fließen viel Kraft, Zeit und Engagement in den Erhalt von Gebäuden. Die Vernetzung von Kirche, Diakonie und Evangelischen Schulen bleibt eine Baustelle, bei der kaum die Fundamente gegossen sind.“ Bei den Kirchenkreisen stelle sich die Frage, sagt er, ob es „eine sinnvolle Lösung ist, sie immer größer zu machen“. Vielleicht wäre es „zielführender, die Sprengel als Kirchenkreise zu definieren und den Kirchengemeinden darunter eine Größe zu geben, der alle Mittel zur Bewältigung ihrer Arbeit zur Verfügung stehen, die aber trotzdem noch überschaubar bleiben“.
Hoffnungen in der Ökumene enttäuscht.
Wie ein roter Faden zieht sich die Hoffnung auf Fortschritte in der Ökumene (https://www.ekd.de/was-bedeutet-oekumene-73364.htm) durch viele Artikel. Immer wieder wird vorausgesagt: 2025 sind wir mit der Ökumene wesentlich weiter. Mindestens gibt es ein gemeinsames Abendmahl. Der katholische Autor Olaf Lezinsky beschrieb „eine lateinische Weltkirche, in der wir jetzt alle wieder beheimatet sind, ohne dabei die eigenen Riten zu verraten“. Dazu ist es offensichtlich nicht gekommen. Ich bin auf diesem Hintergrund auch enttäuscht darüber, wie wenig sich in den zurückliegenden Jahren ökumenisch bewegt hat. Aber es bleibt für mich auch heute noch dabei: Die Zukunft der Kirche muss viel ökumenischer werden, selbst wenn sich offiziell wenig ändert. Was denkt Olaf Lezinsky heute über seinen Artikel? Auf diese Frage hin analysierte er seine Antwort mit ChatGPT und schickte sie mir. Dieser Chatbot basiert auf Künstlicher Intelligenz. Dem Computersystem wird beigebracht, Muster zu erkennen. Seine Analyse des Artikels von Olaf Lezinsky fällt sehr positiv aus und würdigt vor allem die ironische Präzision: „Ein wunderbar durchdachter und klug formulierter Text, der nicht nur witzig, sondern auch sehr genau ist.“ ChatGPT erkennt, dass es sich bei dem Text von Olaf Lezinsky um „eine ironische Zukunftsprognose handelt und retrospektiv über eine vermeintliche Kirchenwiedervereinigung“ geschrieben wird.
Vielleicht hätten wir alle mit etwas mehr Bereitschaft zur Infragestellung und zum Humor in die Zukunft blicken sollen. Andererseits schien mir eine so weit gefasste ökumenische Vision damals, drei Jahre nach dem Ersten Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin (https://www.kirchentag.de/was-ist-kirchentag/geschichte), ernsthaft und berechtigt. Heute sehe ich es anders. Doch meine aktuelle Resignation ist mir weniger lieb als meine Hoffnung aus dem Jahr 2005.
Zur Zukunft der Kirche gab es auch noch andere Themen und Wünsche. „Ich wünsche mir“, schrieb Pfarrerin Ute Gniewoß, „dass es uns reicht, von Gott und unseren Nächsten gemocht zu werden. Und vielleicht von denen, an die er uns zuerst weist, von denen, die leiden, und vielleicht nicht gut riechen und keine klugen Bücher lesen, die vielleicht eine andere Sprache sprechen und sich nicht nach einer schön eingerichteten Wohnung, sondern nur nach Sicherheit und Geborgenheit sehnen.“
Menschen mit Neugier auf andere vermisst.
Als ich Pfarrerin Gniewoß nach ihren Wünschen von damals frage, sagt sie: „Keiner der Wünsche von damals hat sich erfüllt.“ Aber sie resigniert nicht, auch wenn die Veränderungsprozesse langsam gehen. Denn die Kirche ist „eben ein Tanker und kein Segelboot“. Allerdings vermisst Ute Gniewoß in der Kirche Menschen, „die neugierig auf andere sind, auf solche, die andere Herkünfte, Erfahrungs- und Sprachräume kennen“.
Susanne Kahl-Passoth, die damalige Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (https://www.ekbo.de/news-detail/louise-schroeder-medaille-2024-fuer-susanne-kahl-passoth), schreibt mir: Ihre Hoffnung von damals, dass Kirche und Diakonie wieder enger zusammenwachsen, habe sich nicht erfüllt. Und sie sagt, dass „die gesellschaftliche Akzeptanz von Diakonie nach wie vor größer ist als die von Kirche“. Susanne Kahl-Passoth fügt hinzu, dass Kirche immer noch „zu schwerfällig ist, teilweise bürokratisch und grundsätzlich zu wenig Raum für das spontane Eingehen auf gesellschaftliche Lagen und Ideen hat“.
Zum Buch hat auch der damalige Bischof und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber (https://www.evangelisch.de/personen/wolfgang-huber), einen Text beigetragen. Er ist in die Geschichte der EKD als einer eingegangen, der sich mit Reformen der Kirche auseinandergesetzt hat. Doch dazu schreibt er in seinem Text nicht viel. Ihm geht es bei der wichtigen Frage zur kirchlichen Zukunft um die Haltung, die uns Christinnen und Christen bestimmt: „die Mentalität, die man uns abspürt, den Geist, der uns beflügelt“. Das ist ein zeitloser Gedanke, dem 20 Jahre nichts anhaben können.
In die gleiche Richtung, nur noch deutlicher, geht der inzwischen verstorbene Praktische Theologe der Humboldt-Universität zu Berlin, Wilhelm Gräb (https://www.theologie.hu-berlin.de/de/professuren/stellen/religion/team/emeriti/wilhelmgraeb). Er schreibt: „Der Glaube ist mit existenzieller Hoffnung verbunden. Deshalb ist die Lebensform, in die er führt, durch Gelassenheit gekennzeichnet, durch Loslassenkönnen, Sich-überlassenkönnen. Wer in diesem Sinn glaubt, weiß, dass er sich das Wichtigste im Leben nicht selbst erarbeiten kann und muss. Letztlich ist alles Gnade, Geschenk, wie das Leben selbst. So ist die Lebensform des Glaubens die Praxis der Liebe. Wer die Bibel kennt, weiß dann auch, dass diese drei bleiben: Glaube, Hoffnung, Liebe. Sie bleiben sogar, wenn Gott entschwindet und wir ihn nur wie durch einen dunklen Spiegel ahnen können. Die Liebe aber ist die größte unter ihnen.“ Wir werden uns in den nächsten 20 Jahren weiter verändern. Und es zeichnet sich ab, dass wir weiter kleiner werden. Ich frage mich, ob wir Ostdeutschen mit den Veränderungen besser umgehen können. Denn wir wissen aus Erfahrung, dass weder unsere Größe und Mitgliederzahl noch unsere finanziellen Ressourcen das Wichtigste für die Zukunft der Kirche sind.
Manche Entwicklung war nicht vorhersehbar.
Viele Grundlagen dafür sind gelegt. Es gibt „Dritte Orte“ zum Ausprobieren neuer Frömmigkeitsformen und Gemeindeorganisation (https://akd-ekbo.de/innovation/dritteorte/). Das Ehrenamt ist aus den vergangenen 20 Jahren gestärkt hervorgegangen. Gesamtkirchengemeinden ermöglichen Verantwortung auch in kleinsten Einheiten. Aber es wird noch weniger hauptamtliches Pfarramt, Kirchenmusik und außerschulische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen geben. Gottesdienstbesuch und Gemeindekreise schrumpfen weiter. Vielleicht gibt es neue Highlights wie regionale faire Frühstücke, gemeinsam verantwortet von Kirchengemeinde, Stadt und Evangelischer Schule. Es gibt Entwicklungen, die vor 20 Jahren nicht absehbar und kaum vorstellbar waren: Migration und Willkommenskultur. Die Eröffnung des digitalen Universums und seiner Möglichkeiten. Das Erstarken extrem rechter Parteien und Gruppierungen und ihr Einfluss in den Parlamenten. Ein nicht endender Krieg in Europa. Mit all dem setzt sich die Kirche auseinander und wird es auch weiterhin tun. Und durch die Art und Weise, wie gerade der politische Diskurs heute geführt wird, ist mir meine Kirche näher gerückt. Die Zahl der Orte in unserer Gesellschaft, wo Menschen sich niedrigschwellig und voraussetzungslos begegnen können, so unterschiedlich wie sie sind, nimmt ab. Schon deshalb ist es gut, dass es uns als Kirche – heute und hoffentlich auch morgen – gibt, so wie wir sind. Kunst und Kirche passen zusammen.
Friederike von Kirchbach war Pröpstin der EKBO (2005–2015). Heute lebt sie im Ruhestand in Berlin. Sie ist Herausgeberin von „Kirche 2025: Entwürfe für die Zukunft“, Wichern-Verlag (https://www.wichern.de/), Berlin 2004, 124 Seiten. Das Buch ist nicht mehr lieferbar. Eine digitale Version ist erhältlich, für 10 Euro. Weitere Informationen bei Wichern-Verlag, Sabine Hoffmann, Tel.: 030/28874817 oder E-Mail: vertrieb@wichern.de