Am Ewigkeitssonntag gedenken wir den Verstorbenen. Gemeinsam trauern und hoffen wir. Warum wir einen Vorgeschmack auf die Ewigkeit erleben. Dörte Paul schreibt Gedanken zum Tod und Anekdoten nieder. Die Pfarrerin erzählt von den „Schwachstellen des Diesseits“ und dem Grab ihres Vaters.
Von Dörte Paul
Bepackt mit Tannenzweigen gehe ich zum Grab meines Vaters auf dem kleinen Friedhof. Das Gesteck hole ich erst später aus dem Auto. Es ist nicht weit. Nachbarn kommen mir entgegen. Wir grüßen uns herzlich. Anderen nicke ich zu. Alle verbindet an diesem Tag das gleiche Ansinnen, sei es innerlicher Wunsch oder schmerzliche Pflicht. Es ist wieder einmal Zeit abzudecken.
Am Grab meines Vaters angekommen, treffe ich alte Bekannte. Ein Gespräch entspinnt sich. Wir denken an gemeinsame Zeiten, machen uns auf Eigenarten unserer Verstorbenen aufmerksam. Weißt Du noch? Ja, ich weiß. Dürftige Gedankensplitter setzen sich erneut zu einem Bild zusammen.
Das Grün wird nicht zerfallen
Als meine Arbeit erledigt ist, gehe ich meinen eigenen Erinnerungen nach, streife durch die Reihen, verweile vor Gräbern und Tafeln mit vertrauten Namen und rufe mir Nachbarinnen, Weggefährten und Verwandte ins Gedächtnis. Im Reden und einsamen Erinnern trete ich hinaus aus den gewohnten Anforderungen. Ich lasse mich leiten, spüre hinter meine Grenzen.
Dann stehe ich wieder vor dem Grab meines Vaters und betrachte mein Werk. Das Tannengesteck lehnt am Stein und zwischen der Bepflanzung liegen die Zweige in regelmäßigem Muster. Sie widerstehen dem Herbst und seinem Verfall. Die Kälte des Winters wird sie nicht schrecken. Sie geben dem Grab ein grünes Kleid. Hoffnung heißt das Kleid.
Die eigene Bedürftigkeit entdecken
Dieser besondere Friedhofsgang ist einer meiner jährlich wiederkehrenden schwachen Momente. Ich bin lieber stark – vor mir und vor anderen. Hier aber entdecke ich stets meine eigene Bedürftigkeit und erspüre still die „Schwachstelle zwischen Diesseits und Jenseits“ (Gerhard Engelsberger)
Ich werde empfänglich für die auf dem Grab ausgebreitete Hoffnung. Ich blicke auf die Zweige und sinke hinab. Angekommen in Gottes Hand, rede ich stumm mit Gott. Er hört zu. Er ist mir nah. Worte der Bibel kommen mir in den Sinn. Sie umweben nun mich mit grünem Kleid: Ein neuer Himmel und eine neue Erde – die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten – Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende – siehe, ich mache alles neu. Getröstet und gestärkt wende ich mich zum Gehen.
Bald sitze ich wieder im Auto auf dem Rückweg nach Görlitz. Mit jedem Kilometer merke ich, wie meine kleine Welt an Bedeutung gewinnt, die gewonnene Weite zurücktritt. Doch der Moment ist zu kostbar, um ihn zu vergessen. Verborgen trage ich ihn nach Hause, hüte den grünen Stoff unter meiner abgetragenen Jeans.
Gemeinsam auf die Kerzen blicken
Dann ist Ewigkeitssonntag. Ich sitze in meiner Gemeinde. Die Orgel erklingt und ich stimme in den Gesang ein. Viele sind heute gekommen. Da sind Menschen, die erst vor Kurzem Abschied von ihren Lieben nehmen mussten. Manche wirken unsicher, anderen hallen die Worte der Bibel altvertraut in den Ohren wider: Er wird abwischen alle Tränen – Wir werden sein wie die Träumenden – Wachet, denn ihr wisst weder Zeit noch Stunde.
Vor dem Abendmahl hören wir die Namen derer, die im vergangenen Jahr verstorben sind. Für jeden wird eine Osterkerze entzündet. Ein schmales rotes Kreuz mit A und O ist darauf abgebildet. Viele Kerzen brennen.
Gott bricht herein
Ohne mich umzusehen, bemerke ich, wie angerührt die Angehörigen sind und wie andere Gemeindeglieder still ihre Teilhabe schenken – Schwachstellen des Diesseits. Gott bricht herein. Er scheint durch das Licht der Kerzen zu uns. Er erhellt die Trauer der Angehörigen mit seinem Schein. Nichts Alltägliches und nichts Fremdes ist in diesem Erleben. Gemeinsam blicken wir auf die Kerzen. Wir teilen als Gemeinde die Trauer und den Schmerz. Zugleich teilen wir unsere Hoffnung. Unsere Welt ist größer als wir täglich meinen, auch in unseren Verlusten.
In der Zeit um den Ewigkeitssonntag werden die Mauern unseres Alltags durchlässiger. Gott kann zu uns hereinbrechen. Und wir? Wir lassen es zu. Wir erfahren, ja wir erspüren seine Stärke. Wir sind von ihm und auf ihn hin geschaffen. Auch das merken wir. Als Einzelne und in der Gemeinschaft brauchen wir seine Nähe. Dankbar gehen wir in diese Tage, in denen Gott Raum ergreift. Was uns in ihnen entgegenkommt, ist der Vorgeschmack auf die Ewigkeit.
Dörte Paul ist Pfarrerin der Innenstadtgemeinde Görlitz.