Die Vorstellung eines Sammelbands über Bischof Otto Dibelius geriet zum Disput in der Friedrichstadtkirche.
Recht harmlos hatte die Evangelische Akademie zu Berlin ihre Veranstaltung am 15. Januar in Berlin als „Buchvorstellung und kritische Würdigung“ angekündigt. Aber das Gespräch über den Sammelband „Otto Dibelius. Neue Studien zu einer protestantischen Jahrhundertfigur“ aus dem Verlag Mohr Siebeck in Tübingen entpuppte sich als Kontroverse.
Von Roger Töpelmann
Berlin. In der Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt war der Raum im Untergeschoss mit über 100 Teilnehmenden bis zum Platzen gefüllt. Zeitweise mussten sogar nicht angemeldete Besuchende abgewiesen werden. Der Mann, um den es ging, Otto Dibelius (1880–1967), hatte bei Adolf von Harnack zum Dr. phil. promoviert, war Kirchenreformer, Nationalprotestant. Zudem war er Bischof von Berlin, EKD-Ratsvor -sitzender, Gründungsmitglied der CDU und Pfarrer. Fast ein Jahrhundert durchlebte er. „Wie ist es zu werten?“, fragte Akademiedirektorin Friederike Krippner mit leicht kritischem Unterton.
Reden in „verletzender Schärfe“
Professor Lukas Bormann, Neutestamentler aus Marburg, beschrieb Dibelius als Mann der Kirche, dem Reden in „verletzender Schärfe“ vorgeworfen wurde. Geschichte sei für ihn Handeln Gottes gewesen, der Erste Weltkrieg sein Wille und die Revolution von 1918 eine Strafe Gottes. Gegen den Schweizer Theologen Karl Barth (1886–1968) plädierte Dibelius für eine starke Kirche und predigte sowohl Krieg als auch Friede auf Erden. Er sagte oft: „Alles soll anders werden.“ Dibelius musste zahlreiche Niederlagen hinnehmen, weil er sich nicht durchsetzen konnte. Dennoch sei er immer neu der Mann der Stunde gewesen. Deutlich habe Dibelius vertreten, Kriegsdienstverweigerung müsse absolut respektiert werden. Als Bischof von Berlin vertrat er nach dem Zweiten Weltkrieg antikommunistische Positionen.
Der Historiker an der Berliner Technischen Universität (TU), Professor Manfred Gailus, hob die vaterländische Gesinnung des jungen Dibelius und dessen Antijudaismus hervor. Im Ersten Weltkrieg habe er sogar Kriegsanleihen propagiert und sich in der deutsch-nationalen Volkspartei engagiert. In zwei wöchentlichen Zeitungskolumnen, darunter im Evangelischen Sonntagsblatt, erreichte er viele Menschen. Zur Reichstags-Eröffnung predigt er am Tag von Potsdam am 21. März 1933. Seine antijüdische Haltung sei zweifellos ein Kampf gegen das Judentum gewesen. Allerdings geriet der Nationalprotestant als „Kirchenmann der Mitte“ in Konflikt mit den nationalsozialistischen Deutschen Christen. Erst 1945, mit 65 Jahren, wird er zum Bischof von Berlin-Brandenburg gewählt.
Zweifel an der Jahrhundertfigur
Unerwähnt blieb nicht, dass Dibelius den Militärseelsorgevertrag zwischen der EKD und der Bundesrepublik verhandelte und 1957 unterzeichnete. Bis heute garantiert er die seelsorgerliche Betreuung von Soldatinnen und Soldaten für beide christlichen Kirchen sowie seit einigen Jahren auch der jüdischen Militärangehörigen in der Bundeswehr. Bischof Christian Stäblein begrüßte den Berliner Ulrich Dibelius, einen Urenkel, im Publikum. An der „Jahrhundertfigur“ Dibelius brachte Stäblein als einer seiner Nachnachfolger deutliche Zweifel an: „War der im 20. Jahrhundert lebende Kirchenmann nicht im falschen Jahrhundert?“ Er gehöre doch eher ins 19. Jahrhundert, so Stäblein. Und fügte hinzu: „Man darf den Antisemitismus bei ihm nicht verschweigen, gerade heute!“ Auch seine klar reaktionäre Position zur Rolle von Frauen in der Kirche sei problematisch. Dennoch habe Dibelius kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges drei Frauen ordiniert. Oft frage Stäblein sich, ob er das Amtskreuz seines Vorvorgängers tragen dürfe, das auf der einen Seite das Votum „Ein feste Burg ist unser Gott“ zeige und auf der Rückseite die Dornenkrone des Gekreuzigten. Die folgende Podiumsdiskussion mit Bormann und Gailus wurde durch die jüngst promovierte Pfarrerin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Jolanda Gräßel-Farnbauer sowie Anette Detering, ehemals vom „Berliner Arbeitskreis Otto Dibelius“, höchst belebt: Die Pfarrerin erwähnte die problema -tische Passage in dem Buch „Wir rufen Deutschland zu Gott“ (1937). Darin behauptete Dibelius, die Frauen der Frauenbewegung hätten sich ihrer göttlichen Bestimmung als Hausfrau und Mutter widersetzt. Evangelische Frauen reagierten seinerzeit mit Protestbriefen, in denen sie die Nähe zur NS-Ideologie kritisierten und einen Imageschaden für die Bekennende Kirche fürchteten.
Dibelius neu denken
Anette Detering, DDR-Bürgerrechtlerin, ehemalige Politikerin und 2005 Gründerin des Arbeitskreises Otto Dibelius, hob positiv Dibelius Forderung nach Unabhängigkeit der Kirche vom Staat hervor und seine Fähigkeit, sich in jeder Situation neu zu bewähren. „Er hat viele Fehler, aber in der Geschichte des 20. Jahrhunderts muss man ihn neu denken.“
Bei solchen Sätzen spürten wohl alle die hohe Anspannung unter den Zuhörenden. Gailus fachte sie noch an: „Der Mann war weitgehend fehlgeleitet!“ Oder: „Er hat ständig Öl ins Feuer des Kalten Krieges geschüttet, der Evangelischen Kirche mehr geschadet als sie geschützt.“ Versöhnlicher und wissenschaftlich korrekt hörte sich an, was Pfarrerin Gräßel-Farnbauer in die Worte fasste: „Es steht uns in vielem kein Urteil zu.“ Bormann brachte es auf den Punkt: „Die Umgestaltung zur demokratischen Gesellschaft war nicht seine Herzensangelegenheit.“
Otto Dibelius. Neue Studien zu einer protestantischen Jahrhundertfigur. Herausgegeben von Lukas Bormann und Manfred Gailus, Reihe Christentum in der modernen Welt, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2024, 421 Seiten, 99 Euro.