grosser Raum mit einer Fensterfront
Gemeindesaal der Kirchengemeinde Siemensstadt, in der Zwangsarbeiterinnen untergebracht waren

Stolperschwelle für Zwangsarbeiterinnen in Siemensstadt

Mehr als 40 Zwangsarbeiterinnen aus dem damaligen Sudetenland, Belgien, den Niederlanden, Kroatien, Dänemark und der Sowjetunion (heute Ukraine) lebten für fünf Jahre in einem evangelischen Gemeindesaal auf 240 Quadratmetern. Das war ab 1940. Heute, fast 85 Jahre später, will die Kirchengemeinde Siemensstadt in Berlin-Spandau an das einstige Unrecht erinnern und den Frauen ein Gesicht geben.

von Andrea von Fournier

Berlin. Seit Jahrzehnten treibt die Mitglieder der Berliner evangelischen Kirchengemeinde Siemensstadt das Schicksal von Mitmenschen in ihrem Gemeindehaus an der Christophoruskirche um: Hier waren von 1940 bis 1945 Frauen aus verschiedenen Ländern auf engstem Raum unwürdig untergebracht. Die 40 Frauen mussten bei der Firma „Siemens & Halske“ zivile Zwangsarbeit leisten.

Zwangsarbeiterinnen im Gemeindesaal

Im Jahr 2006 gab es im Vorraum der Kirche eine Ausstellung über die Geschichte der Kirchengemeinde von 1932 bis 1948: „Zwischen Zustimmung, Anpassung und Widerstand“. Pfarrerin i.R. Christine Pohl wirkte entscheidend daran mit. Bis zum Jahr 2021, war sie in Siemensstadt 34 Jahre lang im Dienst. Sie findet es sehr wichtig, die Aufarbeitung des Kapitels „Unterbringung von Zwangsarbeiterinnen“ nicht mit der einen Ausstellung als abgeschlossen zu betrachten.

Sichtbarkeit ist das Gebot der Stunde

Auch ihre Kollegin, Pfarrerin i.R. Constanze Kraft, setzt sich für das Schicksal der Frauen von damals ein. „Wir werden niemals mehr erfahren, wie sich die Frauen verstanden haben. Welche Konflikte es gab, wie sie sich unter den hygienischen Bedingungen, mit schnarchenden Nachbarinnen gefühlt haben, was Heimweh und körperliche Sehnsüchte mit ihnen anrichteten“, so Kraft. Es sei Gebot der Stunde, das jetzt noch zu Ermittelnde, Erwiesene ans Licht zu bringen, zu sammeln und für Gemeinde und Spandauer öffentlich sichtbar zu machen. Darum hat Constanze Kraft 2023 die „Arbeitsgruppe Stolperschwelle“ in der Kirchengemeinde gegründet.

Erinnerung an Zwangsarbeiterinnen soll sichtbar werden

Sie lebt erst seit wenigen Jahren in Siemensstadt. Im vergangenen Jahr hatte sie an einer Führung teilgenommen, bei der im Verwaltungsgebäude der Siemens AG an der Nonnendammallee eine Gedenktafel zu sehen war. Die erinnert an alle Zwangsarbeitenden, die während der Zeit des Zweiten Weltkrieges in der Firma arbeiten mussten. Für tausende Zwangsarbeiter*innen eine nicht-öffentlich zugängige Tafel? Das empfand Constanze Kraft als nicht angemessen. Deshalb engagieren sie und die Kirchengemeinde sich, an die Zwangsarbeiterinnen im Gemeindehaus zu erinnern, und zwar am Ort des Geschehens mit einer sogenannten Stolperschwelle.

Dass die Frauen im 240 Quadratmeter großen Gemeindesaal untergebracht waren, lässt sich in Protokollen des Gemeindekirchenrats aus jenen Jahren nachlesen. Sie sind eine der wichtigsten Informationsquellen der „Arbeitsgruppe Stolperschwelle“. Fragen der Kirchenältesten, Kontakte zu Siemens und Probleme der Gemeindemitglieder sind hier dokumentiert. So lässt sich die Geschichte des Orts rekonstruieren.

Verhandlungen mit der Kirchengemeinde

„Umschülerinnen – junge sudetendeutsche Frauen – sollten zunächst für sechs Wochen in den Saal einziehen“, sagt Christine Pohl. Im Auftrag des Gemeindekirchenrats (GKR) verhandelte der damalige geschäftsführende Pfarrer Friedrich Schletz mit dem Siemens-Werk. Das war im März 1940. Man kann davon ausgehen, dass der GKR „im Geist der Zeit“ damals so neutral wie möglich gehandelt hat.

Siemensstadt, drei Siedlungen, die in Einöde und Brache hineingeplant und gebaut wurden, beherbergte nach mehreren Bauabschnitten ab 1905 bis in die 1930er Jahre über 13000 Menschen, die neben modernen Wohnungen auch Natur, Verkehrsanbindung und alle notwendigen Sozialeinrichtungen vorfanden. Und vor allem Arbeit und Brot bei Siemens. Das Unternehmen hatte ein weit entwickeltes Sozialsystem. So konnten Einwohner und auch der GKR davon ausgehen, dass es den Menschen gut geht, wenn es dem Unternehmen gut geht. In dem Kontext ist der Mietvertrag für die sudetendeutschen Umschülerinnen zu verstehen.

Kirchengemeinde verdiente an Unterbringung

Siemens zahlte für das Quartier vertraglich pro Bett 0,50 Reichsmark. Doch nach den Sudetendeutschen kamen Frauen aus Belgien, den Niederlanden, Kroatien und Dänemark. Es wurden immer mehr. Die Gemeinde kontaktierte laut ihrer Protokolle mehrmals das Unternehmen wegen der Zustände. So gab es anfangs nur einen Ofen und später beklagte sich der Heizer bitterlich, weil er sich durch die vielen Betten, Koffer und anderen Dinge nicht bewegen konnte. Spätestens, als die Ukrainerinnen ihre Koffer zwischen den Betten im Gemeindesaal abstellten, scheinen die Probleme zugenommen zu haben, wie Aufzeichnungen zeigen.

Vom Gemeindeleben ausgeschlossen

Inzwischen waren weit mehr als 40 Frauen zusammengelegt worden, eine „Lagerleiterin“ eingestellt. Die Zwangsarbeiterinnen mussten sich zu Gottesdienstzeiten still verhalten. Am Gemeindeleben durften sie nicht teilhaben, nicht mal zu Weihnachten. In heißen Sommern wurde ihnen der Aufenthalt im Garten hinter dem Haus in Badekleidung untersagt. Das und weitere Details haben Mitglieder der Arbeitsgruppe in Zusammenarbeit mit anderen Spandauer Akteuren zusammengetragen. „Eine Akte gibt es noch im Siemens-Archiv, wir warten seit einem Dreivierteljahr auf Einsicht“, sagt Constanze Kraft. Die Idee zur Setzung einer „Stolperschwelle“, das sind die bekannten Stolpersteine in länglichem, größerem Format, die Informationen über mehrere unbekannte Kriegsopfer enthalten, wurde vom GKR und dem Superintendenten des Kirchenkreises Spandau, Florian Kunz, mitgetragen. Die konkreten Vorbereitungen dazu laufen, 2025 soll die Stolperschwelle kommen. Im Januar ist eine Informationsveranstaltung dazu geplant.

Weitere Informationen: Unter der E-Mail kiez@ev-gemeindesiemensstadt.de kann das Team der „Arbeitsgruppe Stolperschwelle“ kontaktiert werden. Wer für die Stolperschwelle spenden möchte: IBAN DE77 5206 0410 0003 9070 40 Verwendungszweck: „Stolperschwelle“

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