Alter Mann mit Brille
Walter Frankenstein, 2008. Foto: Jüdisches Museum Berlin

Nachruf auf Walter Frankenstein: „Nicht mit uns!“

Walter Frankenstein (1924–2025) überlebte im Untergrund in Berlin mit seiner Familie den Holocaust. Dass es einen Gott geben könnte, daran glaubte er seit 1933 nicht mehr. Nach dem Zweiten Weltkrieg kämpfte er unermüdlich für die Erinnerung an die NS-Verbrechen. Dafür wurde er 2014 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Mit 100 Jahren ist Walter Frankenstein am Ostermontag in Stockholm verstorben.

Von Juliane Röleke

Einen Nachruf auf seine Person ausgerechnet in der Zeitung der Evangelischen Kirche zu lesen, das hätte bei Walter Frankenstein vermutlich sein so typisches Grinsen hervorgerufen. Zugegebenermaßen spielte die Religion keine große Rolle für uns beide. Dass es einen Gott geben könnte, daran glaubte Walter seit 1933 nicht mehr: Nachdem SA-Mitglieder das Geschäft seiner alleinerziehenden Mutter Martha verwüstet hatten, beobachtete er einen der Männer und sagte sich, wenn dieser nicht in 50 Metern tot umfalle, glaube er nicht mehr an Gott. Der SA-Mann konnte weitermarschieren, und Walter blieb seitdem Atheist. Doch er war immer daran interessiert, mit vielen verschiedenen Menschen und deren Überzeugungen in Kontakt zu kommen, und so denke ich, es hätte ihm gefallen, dass hier an ihn erinnert wird.

Seine große Liebe lernte Walter Frankenstein im Waisenhaus kennen

Walter Frankenstein wurde am 30. Juni 1924 in Flatow im heutigen Polen in eine jüdische Familie geboren. Er kam als 12-Jähriger nach Berlin, weil er aufgrund der antisemitischen Gesetze des NS-Regimes in seinem Heimatort nicht mehr in die Schule gehen durfte. Als Halbwaise lebte Walter fortan im Auerbach’schen Waisenhaus auf der Schönhauser Allee in Berlin-Prenzlauer Berg. Dort lernte er seine große Liebe und spätere Ehefrau Leonie kennen.

Anfang 1943 tauchten sie mit ihrem sechs Wochen alten Sohn Peter-Uri unter. „Nicht mit uns!“, hatten sie sich geschworen, nachdem sie die Deportation von Familienmitgliedern miterleben mussten. In der Illegalität bekamen die beiden mit Michael ein zweites Kind. Alle vier überlebten und wurden am 27. April 1945 in Berlin-Kreuzberg von sowjetischen Truppen befreit: Dieser Tag, so sagte Walter mir einmal, sei ihm wichtiger als sein Geburtstag.

Walter Frankenstein: „Ich komme mir vor wie aus einem Disney-Film!“

Und genau 80 Jahre später sitze ich an diesem Text. Normalerweise hätte ich ihn heute angerufen, und vielleicht hätte er mir erzählt, wie komisch es sich anfühle, einer der wenigen Shoah-Überlebenden zu sein, die in diesen Tagen noch lebten. „Ich komme mir vor wie aus einem Disney-Film!“, sagte er manchmal. Geheucheltes Gedenken fand er fürchterlich. Gegen rechtes Gedankengut zu kämpfen, wurde er jedoch nicht müde. Walter lebte seit den 1950er Jahren in Stockholm, reiste aber regelmäßig in sein geliebtes Berlin. Er besuchte Freund*innen, ging in die Oper, sprach mit Schulklassen und setzte sich ein für die Errichtung zahlreicher Gedenkorte in der Stadt, unter anderem am ehemaligen Auerbach’schen Waisenhaus. Anfang 2018 kam er auf die Geschäftsstelle von Hertha BSC, wo ich damals arbeitete.

Walter Frankenstein: Fußballfan und Antifaschist

Er war seit 1936 Fan der Hertha, aber seit den 1940er Jahren nicht mehr bei einem Spiel gewesen – das wollte er ändern. Walter erzählte uns vom Fußball damals, von der NS-Verfolgung, und von der Bedeutung, die Sport für sein Überleben hatte. Wir besuchten sein erstes Hertha-Spiel nach über 80 Jahren und sprachen mit Fans im Olympiastadion. An diesem Abend wollte Walter unbedingt auf den Balkon, wo 1936 die NS-Führung um Adolf Hitler gesessen hatte. Walter war mit seinem später ermordeten Onkel Selmar auch im Stadion gewesen. Nun stand er im beleuchteten Olympiastadion und sagte leise: „Tja, der Adolf ist tot und der Walter steht noch hier.“

Walter Frankenstein: „Kleine Dummheiten sind erlaubt, große nicht.“

Wir wurden enge Freunde. Walter genoss es, Blödsinn zu machen, er liebte Reime und erinnerte sein Umfeld oft grinsend: „Kleine Dummheiten sind erlaubt, große nicht.“ Bei Problemen kam dann manchmal doch ein Verweis aufs Göttliche ins Spiel: „Mit Gottes Hilfe und Kamillentee“, so sagte er oft, sei noch so manche Schwierigkeit überwunden worden. Zuletzt jedoch war er entsetzt über den Zugewinn an Stimmen für die AfD, hatte Albträume von der Zeit im Untergrund. Vor wenigen Wochen noch besuchten mein Partner und ich Walter ein letztes Mal in Stockholm. Er hatte im Gefühl, dass er nicht mehr lange leben würde. Wenn er sterbe, wolle er lieber in die Hölle als in den Himmel, sagte er da zu uns mit dem typischen Funkeln in den Augen, denn er habe noch eine Rechnung offen: mit Hitler.

Walter, du wirst vielen Menschen hier unfassbar fehlen.

Juliane Röleke ist Historikerin in Berlin und beschäftigt sich unter anderem mit Erinnerungsarbeit im Fußball.

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