Kommentar zum Kirchentagssonntag

Thomas de Maziere im Titelkommentar

Jetzt ist die Zeit

Am 13. Februar ist Kirchentagssonntag. Er soll auf den Deutschen Evangelischen Kirchentag 2023 in Nürnberg einstimmen. Wie die Losung den Kirchentag 2023 inhaltlich prägen kann, kommentiert der Kirchentagspräsident

Von Thomas de Maizière

Man sagt, jede Generation habe die Gewissheit, in einer besonderen Zeit zu leben – gerade im Hinblick auf Krisen, Wandel und Abbrüche. Vor diesem Hintergrund könnte man es als anmaßend ansehen, wenn sich der Kirchentag 2023 in Nürnberg unter die Losung „Jetzt ist die Zeit“ stellt. Ist das wieder nur eine aktionistische Momentaufnahme? Ist nicht immer die Zeit? „Alles hat seine Zeit“ – das kennen wir doch.  Unsere Antwort ist: Nein. Bei der Auswahl der Losung konnte von blindem Aktionismus keine Rede sein. Es ist weder ein Fünfvorzwölf noch ein Fünfnachzwölf-Kirchentag geplant.

Und trotzdem erleben viele die aktuelle Situation in Deutschland und der Welt als Zäsur. Die Corona-Pandemie seit zwei Jahren ist einer der Gründe. Sie rückt die Frage nach dem Verhältnis von individueller Freiheit und Solidarität so stark in den Fokus wie lange nicht mehr. Die Pandemie scheint sogar an den Fundamenten unserer Demokratie zu rütteln.

Kirchen verlieren Relevanz

Diese Erschütterung spürt man nicht nur in Deutschland und nicht erst seit der Pandemie. Das weltweite Erstarken populistischer, antidemokratischer und autokratischer Führungsstile und Haltungen lässt befürchten, dass die Demokratie nicht mehr so unumstritten ist wie bisher. Das globale Machtgefüge verschiebt sich 30 Jahre nach dem Ende des ­Kalten Krieges, was Deutschland und die EU vor erhebliche sicherheits­politische Herausforderungen stellt. Der für eine Demokratie wesentliche Pluralismus verkommt mehr und mehr zu einem Meinungsegoismus, bei dem nur der eigenen Lebenswirklichkeit Geltung verliehen werden soll. Die Vertrauenskrise öffentlicher Institutionen setzt sich fort.

Besonders betroffen davon sind die Kirchen, die Umfragen zufolge inzwischen auf dem letzten Platz rangieren, wenn nach der Vertrauenswürdigkeit von gesellschaftlichen Akteuren gefragt wird. Der damit einhergehende Mitgliederschwund und Relevanzverlust macht eine Neubestimmung des Staat-Kirchen-Verhältnisses für viele unumgänglich. Und braucht es nicht eine neue Theologie der Krise, um Lebenswirklichkeit und Glaubenserfahrungen vieler Menschen besser zu verknüpfen?

Noch ein Punkt: Mit einem überlasteten Gesundheitssystem und der existenziellen Bedrohung ganzer Berufsgruppen hat die Pandemie auch die Frage nach sozialer Gerechtigkeit neu entfacht. Und während sich einige nach vergangenen, angeblich besseren Zeiten sehnen, bangt eine ganze Generation um ihre Zukunft. Die ökologische Krise wird das zentrale Thema der nächsten Jahrzehnte bleiben. Erhebliche Kraftanstrengungen sind nötig, um das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten zu sichern.

Zeit zu reden, zuzuhören und zu handeln

Jetzt ist die Zeit, über all das nicht nur zu reden. Jetzt ist die Zeit, in der wir all dies gemeinsam angehen müssen. Dazu gehört es, zuallererst die Vielfalt von Positionen und Perspektiven wahr- und ernst zu nehmen. Erst dann sind gemeinsame Schritte möglich, auch die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen. Und deshalb wird es eine der Hauptauf­gaben des nächsten Kirchentages sein, verschiedene Erfahrungen, Meinungen und Lösungsansätze sichtbar zu machen und miteinander ins Gespräch zu bringen.

Dabei soll und muss es  kontrovers zugehen, aber sachkundig, respektvoll und wertschätzend. Der Kirchentag will keine Meinungsblase sein, sondern eine Plattform zur kirchlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Das erfordert Mut – um für die eigene Position zu streiten, aber auch um den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Und es erfordert die Gelassenheit gemeinsam Kultur zu erleben, zu singen, zu beten und zu feiern. Dafür muss immer die Zeit sein.

Der Kontext des in der Losung verkürzt dargestellten Jesuswortes aus Markus 1,15 ermutigt in jedem Fall. Es stellt allen Zukunftsfragen, Verunsicherungen und Aufbrüchen die Hoffnung auf das  Reich Gottes gegenüber. Wir als Christen können optimistisch sein. Der damit verbundene Aufruf zur Umkehr geht über Zeitansagen in Politik, Gesellschaft und Kirchen weit hinaus. Die Losung „Jetzt ist die Zeit“  verweist  auf den Rahmen, der allem menschlichen Denken und Handeln gegeben ist. Wir wirken in der Zeit, in unserer Zeit. Die Zeit selbst aber liegt in Gottes Hand. Dies  verändert die Blickrichtung und ermöglicht es, uns auf dem Kirchentag als Schwestern und Brüder zu begegnen. Dass dies möglich ist, ist unsere ganz besondere christliche Zeitansage.

Thomas de Maizière ist ehemaliger Bundes­minister und Präsident des Evangelischen ­Kirchentages 2023 in Nürnberg.

Am Sonntag, den 13. Februar feiert der Dom zu Fürstenwalde um 15 Uhr den diesjährigen KirchentagsSonntag ökumenisch und hybrid. Das Motto des Gottesdienstes lautet „Leben teilen“ und stammt vom Katholikentag, der 2022 in Nürnberg stattfindet – also ganz ökumenisch.

Der Gottesdienst kann unter den geltenden Hygiene-und Abstandsregeln in Präsenz gefeiert werden, wird aber auch gestreamt. Livestreamhttps://youtu.be/SPpZhL5t5kk

Im Internet zu Hause ist auch die Predigerin, Lena Müller. Sie betreibt den YouTube-Kanal www.youtube.com/c/feministischfrommFREISCHNAUZE

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