Frau begiesst ein Boot aus einer Flasche
Bootstaufe im "Haus Kreisau Berlin". mit Kaspar von Hammerstein, Andrea Siemsen und Stephan von Hammerstein (v.re.nach li.) Foto: Norbert von Fransecky

Bootstaufe im „Haus Kreisau Berlin“

Die Tradition geht weiter: Die Jugendbildungsstätte „Haus Kreisau Berlin“ erweitert ihre Bootsflotte.

Die Jugendbildungsstätte „Haus Kreisau“ in Berlin-Kladow trägt ihren Namen nach der gleichnamigen Widerstandsgruppe in der Nazi-Zeit. Einige der Mitglieder des „Kreisauer Kreises“ waren an dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 beteiligt. Heute werden in der Einrichtung der evangelischen Berufschularbeit Boote im Rahmen erlebnispädagogischer Programme eingesetzt. Bislang verfügte Haus Kreisau über sechs Boote. Ihre Namen erinnern an Menschen, die Widerstand leisteten. Am 27. Juni wurden zwei neue Boote getauft. Sie markieren einen Wendepunkt.

VON NORBERT VON FRANSECKY.

Berlin-Kladow. Wer im südlichen Kladow die Boote auf der Havel beobachtet, entdeckt immer wieder einmal Paddelboote, die die Vornamen von Frauen tragen: Freya (von Moltke), Rosemarie (Reichwein), Claritta (von Trotz zu Solz). Diese Boote gehören der Jugendbildungsstätte Haus Kreisau. Benannt sind sie nach den sogenannten Kreisauer Witwen, den Ehefrauen von Männern, die im Widerstand gegen das Nazi-Regime gestorben sind. Am 27. Juni wurden am Ende eines Zeitzeugengesprächs zwei neue Boote getauft.

Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete eine ökumenische Widerstandsgruppe an Plänen für ein Deutschland nach Hitler. Daran waren Persönlichkeiten aus dem Adel, dem Bürgertum, dem Militär und der Arbeiterbewegung beteiligt. Die Gruppe traf sich mehrfach auf dem Familiengut Kreisau von Helmuth James Graf von Moltkes (1907–1945), Anwalt und Widerstandskämpfer, in Schlesien. Daher wurde sie von der Gestapo unter der Bezeichnung „Kreisauer Kreis“ geführt. Einige der Mitglieder des Kreisauer Kreises waren später an dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 beteiligt.

Harald Poelchau (1903–1972), Gefängnispfarrer und religiöser Sozialist, war Mitglied des Kreisauer Kreises, blieb aber unentdeckt und überlebte. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er in der Tradition des Kreisauer Kreises weiter. Die Bildungsarbeit in der Arbeiterschaft, die bei den letzten freien Wahlen in der Weimarer Republik in Scharen zur NSDAP übergelaufen waren, wurde ihm dabei zum zentralen Anliegen. Gemeinsam unter anderem mit Franz von Hammerstein (1921–2011), Theologe und Mitbegründer der Aktion Sühnezeichen, baute er das Evangelische Industriepfarramt und die Evangelische Berufsschularbeit auf. Für letztere wurde 1957 eine alte Werft in Kladow erworben, die zur Jugendbildungsstätte ausgebaut wurde und den Namen „Haus Kreisau“ erhielt.

Neue Boote tragen Namen von Frauen.

Die Kreisauer Flotte ist nicht in erster Linie zur Freizeitgestaltung da. „Die Boote werden im Rahmen erlebnispädagogischer Programme eingesetzt“, sagt Heike Beneke, langjährige pädagogische Mitarbeiterin des Hauses. „Das gemeinsame Steuern des Bootes fördert Gruppenbildung und Teamfähigkeit.“ Bislang verfügte Haus Kreisau über sechs Boote für jeweils vier Personen. Mit den neuen Booten werden die Möglichkeiten erweitert. Die „Gertie“ ist ein sogenanntes Drachenboot, das durch eine Besatzung von bis zu 20 Personen genutzt werden kann. Die „Verena“ ist das erste Kreisauer Boot, das mit einem Motor ausgestattet werden kann.

„Es kommt immer wieder einmal vor, dass Programme wegen schlechtem Wetter abgebrochen werden müssen“, sagt Beneke. „Dann werden die Boote irgendwo am Ufer zurückgelassen und die Teilnehmenden kommen zum Haus zurück.“ Mit der „Verena“ habe man nun die Möglichkeit die Boote ohne Besatzung zurück zu schleppen.

Mit der Namensgebung der neuen Boote hat die derzeitige Leitung zwei Jahre vor dem 70. Jubiläum der Bildungsstätte deutlich gemacht, dass sie in der Kreisauer Tradition weiterarbeiten will. „Wir stehen an einem wichtigen Punkt“, sagte Wolfram von Heidenfeld, der Leiter des Hauses, mit Blick auf die an -wesenden langjährigen und ehemaligen Mitarbeitenden von Haus Kreisau. Das, was die Arbeit von Haus Kreisau jahrzehntelang geprägt hat, müsse von einer neuen Generation weitergetragen werden. Dazu habe es zu Beginn des Jahres schon drei Studientage gegeben.

Die Zeitzeugen-Kinder kamen zur Bootstaufe.

Die Bootstaufe war der Abschluss eines Zeitzeugengesprächs neuer Art. Es gehört zu der lebendigen Tradition von Haus Kreisau Zeitzeugen einzuladen. Sie berichten den Berufsschüler:innen vom Widerstand gegen Hitler, um ihnen die Bedeutung von Demokratie und Zivilcourage zu vermitteln. Dieses Format der Bildungsarbeit ist an sein Ende gekommen, da es kaum noch Überlebende des Nationalsozialismus gibt. Haus Kreisau hatte daher zur Schiffstaufe die Kinder der beiden Kreisauer Witwen eingeladen, nach denen die beiden neuen Boote benannt werden sollen: Andrea Siemsen, die Tochter von Harald Poelchau, und Stefan von Hammerstein, den Sohn von Franz von Hammerstein. Die beiden Boote tragen nun die Namen ihrer Mütter, Gertie und Verena.

Von Heidenfeld und Beneke erläuterten, warum gerade die Witwen von Harald Poelchau und Franz von Hammerstein ausgewählt wurden. Dabei wurde ein Unterschied zu der Benennung der bisherigen sechs Boote deutlich. Beziehen sich die Namen dieser Boote auf Menschen, die wegen ihres Widerstands gegen Hitler geehrt wurden, kommen nun Menschen in den Blick, die die Tradition des Kreisauer Kreises in die Bundesrepublik Deutschland hinein getragen haben.

Harald Poelchau ist bedeutsam, weil er den Blick der Kirche geweitet hat. Bei Theologieprofessor Paul Tillich (1886–1965), bei dem er in Frankfurt studiert hatte, habe Poelchau gelernt, so von Heidenfeld, dass es wichtig ist, die Grenzen des kirchlichen Milieus zu überschreiten. Das tat Poelchau, der wie Tillich Religiöser Sozialist war, durch den Aufbau der Arbeit des Industriepfarramts und der Evangelischen Berufsschularbeit dann auch ganz gezielt. Die Arbeit mit und für die Bedrängten war ihm zeitlebens wichtig.

„Keine Heldentaten“.

Gertie Siemsen (1908–1988) hatte Harald Poelchau bereits beim Studium in Frankfurt am Main kennengelernt. In Berlin begann Poelchau verfolgten Jüd:innen zu helfen. Sie unterstützte ihn dabei. 1945 wird die gemeinsame Tochter Andrea geboren. 2002 zeichnet die Gedenkstätte Yad Vashem sie postum als „Gerechte unter den Völkern“ aus. Poelchau war bereits 1971 im Jahr vor seinem Tod geehrt worden. Nach dem Krieg wird Siemsen erst Justizrätin und dann Direktorin der Berliner Frauengefängnisse.

Über die Beteiligung am Widerstand wurde in der Familie so gut wie nicht gesprochen, berichtet Andrea Siemsen. „Mein Vater sah in dem, was er tat, keine Heldentaten. Er tat was nötig war“, sagte sie beim Gespräch im ehemaligen Bootsschuppen von Haus Kreisau. Im Zentrum der Arbeit ihrer Mutter hätten andere Dinge gestanden.

„Tagsüber war sie Direktorin. Abends und nachts hat sie übersetzt, nicht zuletzt Texte von Paul Tillich. Und dann hatte sie auch noch viel Zeit für die Familie. Sie hat sehr wenig geschlafen.“

Der Schwur von Buchenwald.

Auch die Schweizer Theologin Verena von Hammerstein (1922– 2021) unterstützte während des Krieges jüdische Emigranti:nnen und hatte auch Jüdi:nnen im Freundeskreis. Von 1954 bis 1957 lebte sie mit ihrem Mann Franz in den USA. Dort erlebten die beiden einen tief verwurzelten Rassismus. 1958 gehörte Franz von Hammerstein zu den Gründern von Aktion Sühnezeichen. Dort war auch Verena aktiv.

Sein Sohn Stephan berichtet, dass sein Vater nach Kriegsende mit dem Fahrrad von Süd- nach Norddeutschland fuhr. Dabei machte er am KZ Buchenwald Station, wo er zuvor in Sippenhaft gewesen war. Dort legte er den „Schwur von Buchenwald“ ab, mit dem sich 1945 Buchenwald Häftlinge aus 60 Nationen zum Kampf gegen den Nazismus verpflichteten, wie der im Publikum anwesende Kirchenhistoriker Ulrich Peter erläuterte.

Heute ruht die Arbeit der Bildungsstätte „Haus Kreisau Berlin“ vor allem auf drei Säulen, erklärt von Heidenfeld. Die Evangelische Berufsschularbeit ist die Form, in der Religionsunterricht an Berufsschulen durchgeführt wird. In seinem Rahmen kommen ganze Klassen zu Klassentagen nach Kladow. Darüber hinaus bietet „Haus Kreisau“ Seminare zur politischen Bildung an, zu denen sich Einzelpersonen anmelden können. Außerdem kann das Haus von kirchennahen Gruppen angemietet werden.

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