Ein Plakat mit der Aufschrift "Nächstenlieb"
Plakat aus der Reihe #beziehungsweise.

Jüdisch beziehungsweise christlich: Nächstenliebe

In der neu aufgelegten Reihe „#beziehungsweise – jüdisch und christlich: näher als du denkst“ geht es um die Jahreszeiten. Eine jüdische Kantorin und eine evangelische Pfarrerin schreiben im November über das Thema Nächstenliebe.

Dein Nächster ist wie du

Von Esther Hirsch

Liebe deinen Nächsten, er ist wie du (2. Mose 19,18).

Was ist richtig und was ist falsch? Diese Frage kam mit der Schöpfung des Menschen in die Welt. Der Mensch, Adam, kann selbst entscheiden. Ab hier wird es also kompliziert. Welche Folgen hat mein Handeln, aufgrund welcher Wissenslage entscheide ich? Noah hatte bereits einen inneren Kompass für sein Handeln. Die restliche Menschheit offenbar nicht. Und so kamen mit der Flut auch Regeln in unsere Welt – um uns ein Zusammenleben zu ermöglichen.

Damit keine weiteren Zweifel aufkommen können, bietet die Tora eine passende Regel für jede Lebenslage, 613 Mizwot (Gebote). Eine offensichtlich herausfordernde Aufgabe, sie alle einzuhalten. Und so waren die Rabbinen aller Zeiten damit beschäftigt, die Essenz dieser Regeln herauszufinden. Was liegt also allen zugrunde? Warum sind sie so ausführlich?

Erstaunlicherweise enthält die Tora, das erste Schriftwerk über den Bund zwischen Mensch und Gott, in erster Linie Ausführungen über das Zusammenleben der Menschen untereinander. Es ist also offensichtlich die schwierigere Beziehung und braucht größere Aufmerksamkeit.

Und die haben wir bekommen: Moses schrieb die Worte Gottes auf: „Er nahm das Buch des Bundes und las es dem Volk vor. Sie sprachen: Alles, was der Ewige gesprochen, wollen wir tun und hören“ (2. Mose 24,7).

Wir müssen uns also an festgeschriebene Regeln halten. Denn die Einhaltung der Gebote führt dazu, dass wir ihren Sinn verstehen. Erfahrungen, die wir weitergeben können.

Liebe deinen Nächsten, er ist wie du (2. Mose 19,18).

Es war der berühmte Rabbiner Hillel, der vor 2000 Jahren auf die Frage nach dem einen grundlegenden Satz das im 2. Buch Mose geschriebene Gebot der Nächstenliebe erläuterte: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht; das ist die ganze Gesetzeslehre, alles andere ist nur die Erläuterung, gehe und lerne sie“ (Babylonische Talmud, Traktat Schabbat 31a).

In verschiedenen Fassungen haben wir diesen Satz seitdem gehört, denn die Tora wurde in alle Sprachen der Welt übersetzt: Altgriechisch, Latein und später die verschiedenen Landessprachen. Doch es war Hillel, der ihn in seiner vollen Bedeutung erfasste: Wir sind alle Geschöpfe im Ebenbild Gottes, die Nachfahren des ersten Menschen, dem Adam. Aus dieser Konsequenz heraus ist der Andere mir gleich. Ein Mensch. Unsere Traditionen, Sprachen und unser Aussehen machen uns individuell, doch entstanden sind wir aus der Erde, adama, aus einer gemeinsamen Substanz.

Welch ein genialer Gedanke. Die Einhaltung dieses Gebotes ermöglicht uns die Wert­schätzung des Anderen. Es ist der beste Anfang für jeden neuen Tag: Liebe deinen Nächsten, er ist wie du.

Esther Hirsch wurde 1970 in Berlin geboren. Nach ihrem Abitur begann sie, Jura zu studieren und absolvierte anschließend ein journalistisches Volontariat in einem Redaktionsbüro. Dazu zählte eine mehrmonatige Hospitanz bei Sat.1 in Berlin. Mehr als zehn Jahre arbeitete sie dort anschließend als Nachrichten­redakteurin. Heute ist Esther Hirsch eine von drei theologischen Referentinnen im „House of One“ und Kantorin in Berlin-Charlottenburg-Wilmersdorf.

Dranbleiben an der Nächstenliebe

Von Ulrike Trautwein

Nächstenliebe ist das pulsierende Herz unserer Glaubensgemeinschaften: jüdisch und christlich – näher als du denkst.

Eigentlich selbstverständlich, wenn da nicht diese uralte Unterschlagung wäre, mit der die Nächstenliebe stets als besondere christliche Tugend gegenüber dem Judentum hervorgehoben wurde. Das hat man so nachhaltig in die Köpfe der Menschen hinein gepredigt, dass es noch immer wirkt. Dabei spielt die Nächstenliebe eine riesige Rolle in der hebräischen Bibel. Die Forderung, dem Leiden anderer Menschen nicht teilnahmslos gegenüberzustehen, sondern voller Mitgefühl für sie zu kämpfen, durchzieht die hebräische Bibel wie ein roter Faden. Jesu Botschaft ist fest im Fundament der jüdischen Ethik verankert, die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit großschreibt. Herzlosigkeit ist unverzeihlich – auch in christlicher Predigtkultur.

Dieser kleine Satz von der Herzlosigkeit geht mir nach, begleitet und provoziert mich. Wenn uns das Leid ständig begegnet und die kriegerischen Konflikte sich immer länger hinziehen, droht sich unser Herz zurückzuziehen und zu verhärten. Gerade angesichts der aktuellen Gemengelage im Nahen Osten mit dem Elend und Sterben unzähliger Menschen, mit dem Ringen Israels um seine schiere Existenz, will und kann ich nicht gleichgültig werden. Und schon gar nicht gegenüber den steigenden Attacken auf jüdische Menschen und Einrichtungen hier in unserem Land. Das Ausmaß an Gleichgültigkeit gegenüber dieser Entwicklung ist herzlos. Wie kommt man dazu, jüdische Menschen hier für die kriegerischen Auseinandersetzungen dort verantwortlich zu machen?

Einer grassierenden Herzlosigkeit entschieden zu widersprechen, kostet viel Kraft, aber der Widerstand lohnt sich, er hält das eigene Herz flexibel.

Der November erinnert uns an die Reichspogromnacht am 9. November 1938. Damals wurden Synagogen in Brand gesetzt, jüdische Geschäfte geplündert und unzählige jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger misshandelt und ermordet. Die nichtbetroffenen Deutschen haben die Grausamkeiten damals mehr oder weniger gleichgültig hingenommen.

Wie konnte es dazu kommen? Herzlosigkeit ist unverzeihlich.

Also dranbleiben an der Nächstenliebe. Wir können einander beistehen – aktiv und herzvoll.

Die evangelische Pfarrerin Ulrike Trautwein ist seit Dezember 2011 Generalsuperintendentin des Sprengels Berlin in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Im Dezember wird sie in den Ruhestand verabschiedet. Der Titel General­superintendentin geht auf eine preußische Bezeichnung zurück. Trautwein ist damit Regionalbischöfin für etwa 700000 evange­lische Christinnen und Christen in Berlin. Sie gehörte von 2003 bis 2011 der EKD-Synode an. Geboren in Limburg an der Lahn war die Theologin unter anderem Autorin für Verkündigungs-sendungen im Hessischen Rundfunk und wechselte 1998 nach Frankfurt am Main in die evangelische Gemeinde Bockenheim, bevor sie nach Berlin kam.

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