Friedrich Schorlemmer
Friedrich Schorlemmer

Theologe, Autor, Widerständler: Zum Tod von Friedrich Schorlemmer

Er war eine Symbolfigur der Friedlichen Revolution und wurde nie müde, die Erinnerung an sie wachzuhalten: Friedrich Schorlemmer war Theologe und hatte eine unverwechselbare Stimme. Nun ist er im Alter von 80 Jahren gestorben.

Von Bettina Röder

Seine Stimme fehlt. Seine Klarsicht. Seine Ausstrahlung als Theologe, hellsichtig und mit Herz. Mit seiner unverwechselbaren Stimme, die aus dem Osten kam, hat er Menschen in Ost und West gleichsam bewegt. Seine brillante und zugleich verblüffend einfache Rhetorik war seine besondere Gabe. Die allerdings nie um sich selbst kreiste, sondern sich immer auf die konkrete Situation der Menschen bezog und so vielen Kompass und Orientierung für eine gerechtere, zukunftsfähige Welt war.

Mit Friedrich Schorlemmer ist einer der großen Theologen unserer Zeit von dieser Welt gegangen. Am späten Abend des 9. September ist er im Alter von 80 Jahren in Berlin eingeschlafen. Er, der kluge Prediger, Musik- und Lyrikkenner, Autor von mehr als 20 Büchern, litt unter Demenz mit Parkinson. Eine brutale Krankheit, die Körper und Geist gleichermaßen angreift.

„Kirche für andere“ im Sinn von Dietrich Bonhoeffer war sein Lebenskompass. Dabei hat er Evangelium und Politik nicht nur zusammengedacht, sondern immer auch in diesem Sinn gehandelt. So wurde er zur Symbolfigur der Friedlichen Revolution 1989, zu der er selbst entscheidend beigetragen hat. Doch auch in den Jahren davor und danach war der streitbare Publizist Impulsgeber für das Nachdenken und Suchen nach tragfähigen Werten für die Zukunft.

Der Lebensweg eines Unangepassten

Aufgewachsen mit fünf Geschwistern ist seine Kindheit geprägt durch die landschaftliche Weite und das offene Dorfpfarrhaus in Herzberg, später zieht die Familie nach Werben. Ein Hof mit Landwirtschaft gehörte dazu, die Sorge ums tägliche Geld ebenso. Seine Eltern heirateten bei einem Fronturlaub des Vaters im August 1943, er wurde im Mai 1944 geboren. Sein Vater, so schreibt er, gehört zu den Soldaten „die aus dem Gemetzel zurückgekehrt waren“. Ihm sei das zur Verpflichtung geworden, niemals unbedingten Gehorsam zu schwören. Sein Lebensweg eines Unangepassten erzählt davon.

In der DDR kann er als Pfarrerssohn das Abitur nur auf Umwegen an der Volkshochschule ablegen. In Halle studiert er Evangelische Theologie und geht als Jugend- und Studentenpfarrer nach Merseburg. 1978 wird er Dozent am Evangelischen Predigerseminar in Wittenberg und Prediger an Martin Luthers Schlosskirche. Hier prägte er das Bild von Wittenberg, die Stadt, die er liebte, hier lebte er mit seiner Frau Heide und den beiden Kindern Martin und Uta. 1992 wechselte er als Studienleiter an die Evangelische Akademie in der Lutherstadt.

Versöhnung und Frieden waren seine Themen

Die Themen Versöhnung und Frieden zogen sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Von der Verweigerung des Wehrdienstes 1962 bis zu seinen markanten Ansprachen bei Großdemos wie am 4. November 1989, fünf Tage vor dem Mauerfall. Frieden, davon war er überzeugt, ist viel mehr als das Schweigen der Waffen. Er setzte vielmehr auf die biblische Vision von einer Welt, in der Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden und kein Volk mehr lernt, Kriege zu führen. Besondere Anschauung hat er diesem Bild beim Kirchentag 1983 mit einer Schmiede-Aktion auf dem Lutherhof in Wittenberg verschafft. Der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ war vom Staat verboten worden, die jungen Leute machten trotz Repressalien weiter.

Der damals 39-jährige Dozent am Predigerseminar in Wittenberg erklärte im Feuerschein unter dem Jubel der jungen Menschen: „Wenn man das Zeichen nicht mehr zeigen kann, wollen wir zeigen, wie man es macht.“ Bundespräsident Richard von Weizsäcker erinnert 1993 in seiner Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Friedrich Schorlemmer in der Frankfurter Paulskirche: „Diese Aktion war eine Aussaat ohne Kenntnis, wann und wie es zur Ernte kommen werde, aber in der Zuversicht darauf.“ Das Ur-Vertrauen, das hinter dieser Zuversicht steckt, war für den Theologen Friedrich Schorlemmer eine „religiöse Grundsubstanz“, ein Kompass für sein Leben und Wirken. Glauben, davon war er überzeugt, meint nicht das Fürwahrhalten eines bestimmten Kanons von Sätzen und Dogmen, sondern bedeutet, ein Grundvertrauen, eine existenzielle Gewissheit zu haben: „Der Mensch muss sich nicht vor Gott rechtfertigen – er ist gerecht gesprochen“.

Die Erinnerung an die Friedliche Revolution

Die Friedliche Revolution von 1989 hat ihn nie losgelassen. Er war überzeugt: Die Erinnerung an die Friedliche Revolution 1989 mit ihrer friedensethischen Kraft der Kirchen als ein in der deutschen Geschichte einmaliges Ereignis ist wichtig, weil sie das Selbstbewusstsein und die Selbstachtung aller Deutschen stärkt: die Erinnerung an Bürgermut und Zivilcourage, an die gewaltlose Konfliktaustragung.

Seinen wiederkehrenden Appellen an die eigene Kirche, sich einzumischen, wo Friedlosigkeit, Ungerechtigkeit oder Not und Verzweiflung herrschen, wird kaum einer besser gerecht als er selbst. Ob Börsenfieber, Zuwanderungsgesetz, Nahost oder Elbeausbau – die Palette seiner Themen hätte nicht größer sein können. Die Kluft zwischen Ost und West, jahrelang geleugnet und in diesen Tagen so präsent, gehörte ebenso dazu. Wie auch seine erbarmungslose Kritik am kapitalistischen System.

Anhänger von Brandt, aber kein Politiker

Einladungen, in die große Politik einzusteigen, erteilte er stets eine Absage. Gleichwohl er überzeugter Sozialdemokrat und ein Anhänger Willy Brandts war. Dessen Entspannungspolitik – ein wichtiger Faktor für den Mauerfall und das Ende der Teilung Europas – hat er von Anfang an mitgetragen.

Das Motto Willy Brandts, der „Mut zum Dafür“, war auch sein Lebensmotto. Fast prophetisch klingt da, was er zu seinem 75. Geburtstag vor fünf Jahren an die Freunde schrieb. Er dankte ihnen, dass sie ihm trotz aller Weltsorgen „gerade jetzt, da alte Gespenster auf die politische Bühne zurückkehren“, geholfen haben, gelassen und engagiert zu leben. So hat er uns ein weiteres, kostbares Vermächtnis hinterlassen: Nur im Miteinander sind wir nicht verloren.

Eine zentrale Gedenkveranstaltung für Friedrich Schorlemmer findet am 19. Oktober um 12 Uhr in Wittenberg statt.

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