Ein kritischer Leserkommentar zum Artikel „Mehr Gefühl in die Kirchen“ (Nr. 2, Seite 3) mit einem Appell für den klassischen Predigtgottesdienst ohne Pop und Harry Potter.
Von Christian Reich
In seinem lesenswerten Buch „Erneuern oder Untergehen. Evangelische Kirchen vor der Entscheidung“ aus dem Jahr 2021 benennt der Pfarrer Markus Beile die ernüchternde Tatsache, dass nicht wenige Pfarrerinnen und Pfarrer sehnsüchtig auf ihren Ruhestand blicken, „wenn sie endlich das sinkende Schiff verlassen können“. Ich gehöre zu ihnen. Bis dahin werde ich meinen Dienst fleißig und nach bestem Wissen und Gewissen leisten sowie hin und wieder meine Stimme in der kirchlichen Öffentlichkeit erheben, wenn ich meiner Verzweiflung über die Infantilisierung und Banalisierung kirchlicher Handlungen – um Gottes willen – Ausdruck verleihen muss.
Mehr Theologie
Nun ist es wieder einmal so weit. Meine erste (und bleibende) Reaktion auf die Überschrift des betreffenden Artikels „Mehr Gefühl in die Kirchen. Was die Kirche von Harry Potter, Taylor Swift und anderen Pop-Phänomenen lernen kann“: Im Gegenteil! – Mehr Verstand in die Kirchen! Mehr Theologie, mehr Qualität, mehr Geist in die Gottesdienste!
Ich selbst habe in den 1980er Jahren als Mitarbeiter in der Jungen Gemeinde mit Jugendlichen zahlreiche Gottesdienste für Jugendliche und Erwachsene gestaltet, in denen sowohl Gefühle als auch der Verstand angesprochen wurden. Ebenso in meinem Dienst als Gemeindepfarrer am Beginn der 2000er Jahre. Diese Gottesdienste waren ohne Ausnahme sehr gut „besucht“, haben aber niemals den Anspruch erhoben, eine Alternative zum „klassischen“ Predigtgottesdienst zu sein. Und: Die Grundlage dieser Gottesdienste war immer die Bibel, die Hauptperson immer Jesus Christus (also nicht Harry Potter!), und zwar stets als Versuch, IHN als existenzielles Geschehen zu aktualisieren oder zu vergegenwärtigen.
Soll Gottesdienst verzaubern?
Als Schulpfarrer an einem Oberstufenzentrum und an einem Gymnasium weiß ich, wie schwer es ist, Jugendliche und junge Erwachsene für die Frage nach Gott zu sensibilisieren und zu interessieren. Aber ich stehe mit meiner ganzen Person dafür ein, dass der Glaube an Jesus Christus vernünftig, dabei weder spektakulär noch magisch ist! Und wenn die Autorinnen Anna Jäger und Friederike Jaekel konstatieren, dass der „klassische Gottesdienst“ aufgehört habe, „Menschen zu verzaubern“, dann sei ihnen gesagt: Das war und ist nicht die Aufgabe eines christlichen Gottesdienstes!
Leider bleibt der eigene theologische Standort beider Theologinnen unklar, ebenso eine Antwort auf die Frage, was eine „moderne POP-Theologie“ mit Theologie zu tun habe. Vielleich sehen sie in dem von ihnen beschriebenen Konzept den ernsthaften Versuch, die Kirche zu erneuern. Ich halte solche Konzepte für ein weiteres Indiz ihres Untergangs.
Ohne Jesus geht es nicht
In einem Gebetsbuch bin ich vor einigen Jahren auf eine Formulierung gestoßen, die mich seitdem begleitet und die ich in fast jedem Gottesdienst, den ich zu verantworten habe, ausspreche. Sie lautet: Das „Wort Gottes kommt zu uns als Predigt: Trost zu erwecken dem Glauben, Gericht zu sprechen dem Aberglauben, aufzuerwecken den ermüdeten Glauben“ (Bernhard von Issendorff). Mit anderen Worten: Der wirksame evangelische Gottesdienst ist und bleibt der „klassische“ Predigtgottesdienst.
Vorausgesetzt, die jeweilige Predigt ist jeweils das Ergebnis gründlicher Exegese sowie das Aussprechen persönlicher Glaubensgewissheit, einschließlich begründeter Zweifel, und verinnerlichter Theologie!
Grundsätzlich gilt: Formen ohne Inhalte sind hohl, Gefühle ohne Verstand zerstörerisch, und christlicher Glaube ohne Jesus Christus ist ein Widerspruch in sich selbst.
Christian Reich ist Schulpfarrer in Oranienburg und Mitglied des Bundesvorstands der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland.