Im Sommer 1986 verfassen zwei junge Männer, einer aus dem Westen, der andere aus dem Osten, an einem Ostberliner Küchentisch einen Friedensvertrag: gegen Feindbilder und gegen verbale Mobilmachung. Veränderungen fangen klein an, mit persönlichen Vertrauenserklärungen. Eine Erinnerung von Pfarrer Thomas Jeutner.
Von Thomas Jeutner
Berlin. Die Kerze auf unserem Küchentisch war fast runtergebrannt. Wir haben bis in die Nacht gesessen, Rainer und ich. Wir haben geschrieben und wieder durchgestrichen. Einige Passagen formulierten sich wie von selbst. An manchen Sätzen kauten wir rum wie an unseren Bleistiften. Am Ende war er fertig: Unser persönlicher „Ost-West-Friedensvertrag“. Verfasst am Ende des Sommers, 1986, von uns zwei jungen Leuten Mitte 20. Jetzt sind wir Mitte 60!
Die zwei Blätter liegen wieder vor mir, handgeschrieben. Von uns beiden unterzeichnet. Ja, die Sätze stammen aus der Zeit der Mauer. Aber sie klingen nicht alt. Eher so, als wenn sie hineinreichen in die Streitthemen von heute in unserem Land, mit den neuen Debatten um Raketenstationierungen:
„Zumal wir eine Sprache sprechen, fühlen wir die Notwendigkeit, uns zu begegnen, miteinander zu reden, und darüber nachzudenken, wie wir unserer besonderen Verantwortung gerecht werden können.“
Das Gleichgewicht der Abschreckung
Ich kam aus dem Bezirk Potsdam in der DDR, Rainer aus Nordrhein-Westfalen in der Bundesrepublik. Es war die Zeit der militärischen Hochrüstung. In beiden Deutschländern waren Atomraketen stationiert. Mit diesem „Gleichgewicht der Abschreckung“, wie es hieß, sollte der gefährdete Frieden stabilisiert werden. Genauso riskant wie die Atomsprengköpfe war auch die weltanschauliche Aufladung. Deshalb schrieben wir:
„Wir wollen nicht dazu beitragen, Feindbilder und Vorurteile zu festigen. Sondern da, wo wir die Entwicklung zum Frieden gefährdet sehen, den Mund aufmachen.“
Das war nicht einfach. Diesseits und jenseits der Mauer wurde der jeweilige Gegner verunglimpft. Wie in einer verbalen Mobilmachung. In dieser aufgeheizten politischen Atmosphäre sind wir aufgewachsen. Und erlebten es deshalb wie ein Wunder, wenn ab und an westdeutsche Jugendliche in die DDR reisen konnten.
Freundschaft über die Mauer hinweg
Rainer ist es gelungen, sich für ein zweiwöchiges Jugendcamp anzumelden in der Nähe von Magdeburg, 1985 in Oschersleben. Es wurde organisiert vom ostdeutschen Zweig der „Aktion Sühnezeichen“. An den Vormittagen haben wir 20 Jugendlichen bei praktischen Einsätzen in einem Heim für Menschen mit Behinderung gearbeitet. Nachmittags diskutierten wir und machten Exkursionen. Da haben wir uns kennengelernt. Danach hielten wir über Briefe enge Verbindung. Die ist bis heute, nach fast 40 Jahren, nicht abgerissen. Auch das Kontakthalten über Besuche schrieben wir hinein in unsere Vereinbarung:
„Wir vereinbaren eine jährliche Begegnung, weil unser Kontakt dadurch verbindlicher wird.“
Die Beamten schüttelten den Kopf
Natürlich wusste ich, dass die Mauer für mich als junger Mensch nicht zu überwinden war. Es war klar, dass ich als Ostdeutscher erst im Rentenalter eine Erlaubnis bekommen würde, in den Westen zu reisen. Trotzdem: Ich habe jedes Jahr im Februar, zu Rainers Geburtstag, bei der Volkspolizei-Meldestelle einen schriftlichen Antrag gestellt. Für eine Besuchsreise nach Düsseldorf, für drei Tage. Die Beamten in der Antragsstelle im Prenzlauer Berg kannten mich schon. Und schüttelten den Kopf. Alle Jahre, bis zum Untergang der DDR, haben sie meinen Antrag abgelehnt. Aber ich wollte nicht klein beigeben. Ich wollte, dass sie auf dieser Antragsbehörde etwas merken: dass es normal sein kann, 500 Kilometer weiter einen Freund zu besuchen.
Mitbauen an einem besseren Miteinander
Aber über die Grenze reisen konnte nur Rainer. In der Zeit nach dem Jugendcamp hatten wir davon gehört, dass sich Leute aus den jeweiligen politischen Lagern in Ost- und Westeuropa gegenseitig eine solche Nichtangriffserklärung aussprechen könnten – für den sehr möglichen Fall eines Krieges. Die Initiative kam aus der Bewegung für Abrüstung in Holland. In einem Friedenszentrum in Groningen wurden europaweit solche Vereinbarungen zentral gesammelt. Es hieß, dass die wachsende Anzahl dieser individuellen Bündnisse auch zu den Regierungen gemeldet würde, in Bonn und Ostberlin.
Rainer und ich waren von dieser Idee begeistert. Ein Jahr nach dem Camp wollten wir uns deshalb wieder treffen, um so eine Vereinbarung für uns beide zu formulieren. Wir brauchten ein ganzes Wochenende. Und erzählten uns, was wir vorhaben im Leben. Und wie wir, als einzelne, trotz Mauer und Kaltem Krieg, mitbauen könnten an einem besseren Miteinander auf unserem geteilten Kontinent.
Kein System ist das „bessere“
„Frieden bedeutet uns nicht, einander in Ruhe zu lassen, nebeneinanderher zu leben, sich voneinander abzugrenzen. Vielmehr: dem anderen Mitmenschen Freiheit zur eigenen Entwicklung zu gönnen. Und bereit zu sein, an ihr aktiv teilzunehmen.“
„Die persönliche Eigenart ist nicht auf das jeweilige Gegenüber zu übertragen. Das Selbst des anderen ist zu akzeptieren. Es geht nicht darum, das eine oder andere System für das bessere zu erklären. Sondern um ein Aufeinanderzugehen.“
Haben die Zeilen geholfen, die Mauer zu stürzen?
Gerade habe ich wieder mit Rainer telefoniert und mich für seinen Brief bedankt, in dem er mir diesen Text unserer Jugend als Kopie zugeschickt hat. Mein Exemplar war in den vier Jahrzehnten verloren gegangen. Jetzt lasen wir uns am Telefon einzelne Passagen nochmal vor.
„Haben wir eigentlich mit so ein paar Zeilen mitgeholfen“, fragte er mich, „die Mauer zu stürzen?“ Wir kamen darauf, weil es in diesen Wochen 35 Jahre zurück liegt, dass die Mauer gestürzt wurde. Der Schießbefehl seit dem 13. August 1961 wurde endlich aufgehoben für Menschen, die ohne Erlaubnis die deutsch-deutsche Grenze überquert haben. 140 Menschen sind allein an der Berliner Mauer ums Leben gekommen, insgesamt rechnet man mit rund 2 000 Todes -opfern an der deutsch-deutschen Grenze.
Innere Mauer eingerissen
Doch ohne den Druck der Straße, meinte ich, ohne die Demonstrationen von 1989 und den Mut der Zehntausenden Ostdeutschen, die in vielen Städten „Keine Gewalt“ gerufen haben, wäre es nicht zum Sturz der Mauer gekommen. Aber die Ost-West-Mauer in uns selbst, die persönliche Grenze der Fremdheit vor dem anderen – die haben wir eingerissen, durch unsere Freundschaft.
Dem stimmte Rainer zu, dass unser Text von damals, so wenig einflussreich er auf die deutschen Staaten war, doch in uns selbst etwas bewirkte: einander zu vertrauen:
„Dieses Ziel halten wir für erreichbar, weil wir glauben, dass in unserer Welt der Schalom Gottes wirksam ist.“ Vielleicht fangen Veränderungen immer so klein an. Wie das Formulieren einer Vertrauenserklärung am Küchentisch, beim Herunterbrennen der Kerze.
Thomas Jeutner ist Pfarrer der Versöhnungsgemeinde in der Bernauer Straße in Berlin.
Filmtipp: „Eine bessere DDR – Utopien aus der Wendenacht“. Unmittelbar vor dem Mauersturz, am Abend des 9. November 1989, debattieren DDR-Kirchenvertreter, Blockparteien und Oppositionsgruppen im Französischen Dom über die Zukunft des Landes. Christian Walther hat bislang unveröffentlichte Filmaufnahmen entdeckt, die von einem utopischen Treffen zeugen. In der ARD-Mediathek.