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„Die Zukunft des Christentums ist politisch“

Der Prager Frühling 1968 begründete eine Aufbruchsbewegung. In deren Folge wandten sich Staaten mehr und mehr von totalitären Regimen ab. Pfarrer Günter Hänsel sprach mit der Theologin Ellen Ueberschär über Freiheit und Demokratie, Kirche für ­andere und die Kraft des Gebets.

Bewohner von Prag mit tschechoslowakischer Flagge vor einem brennenden sowjetischen Panzer. Foto: The Central Intelligence Agency, CC0/via Wikimedia

Frau Ueberschär, am 21. August 2021 gedenkt die Kirchengemeinde Berlin-Schlachtensee des Prager Frühlings 1968. Viele Menschen sehnten sich nach mehr Freiheit und Demokratie. Warum ist es heute wichtig, dass wir des Prager Frühlings gedenken?

Die 1960er Jahre waren global eine Zeit des Aufbruchs einer neuen Generation. In den sowjetisch dominierten Staaten regte sich Widerstand gegen die Diktatur. Als der Staatschef der Tschechoslowakei einen „Sozialismus mit mensch­lichem Antlitz“ ausrief, begeisterte er die Bürger. Das Programm war eigentlich bescheiden, aber die Hoffnungen riesengroß. Als die sowjetischen Panzer einrollten, begruben sie die Bewegung, aber die ­Hoffnung nicht. Der Prager Frühling gehört zu den wichtigsten Vorgeschichten von 1989.

Freiheit und Demokratie sind auch heute Motive, nach denen sich Menschen in vielen Teilen dieser Welt sehnen. Wo nehmen Sie das heute wahr?

Wir können in Europa beginnen. In Belarus sind wir Zeugen einer brutalen Repression gegen eine friedliche Demokratiebewegung. Ohne die Unterstützung des Putin-Regimes wäre der Kampf dieses Diktators gegen sein eigenes Volk rasch beendet – zugunsten von Demokratie und Freiheit. Auch in Russland ist die Demokratiebewegung aktiv und stellt sich gegen gewalttätige und ständig verschärfte Repression.  

Auf der Berlinale 2021 lief der ­erschütternde Dokumentarfilm „Courage“. Er zeigt wie Hunderttausende Menschen in Belarus im Sommer 2020 für freie Meinungsäußerung und einen Machtwechsel demonstrieren. Wenn Sie die ­Meldungen aus Belarus hören, was bewegt Sie dabei?

In Belarus geht es um einen ­langen Atem. Die Menschen wollen Demokratie und sie werden weiter dafür eintreten und ihr Ziel erreichen. Wie rasch sie das schaffen, hängt auch davon ab, ob Europa und die USA entschlossen Unterstützung leisten und nicht nachlassen.  

Die Menschen in Belarus leisten friedlichen Widerstand. Sie stehen ein für Freiheit und Frieden. Tun wir das heute genügend?

Was ist genügend? Wir leben in einer freiheitlichen Demokratie und gerade als Christen profitieren wir enorm von unseren Freiheitsrechten. Selbst in der Coronazeit wird das Recht auf Religionsausübung gewahrt. Die Freiheit wertzuschätzen und uns für andere stark zu machen, denen diese Rechte genommen werden, das ist unser Auftrag.

Im Friedensgebet und im politischen Gottesdienst beten wir für Freiheit und Frieden. Aus dem Gebet schöpfen Christinnen und Christen Zuversicht. Welche Kraft sehen Sie im Gebet?

Mit Gott gibt es keine „Deals“ – nach dem Motto: Ich, Mensch, bete, und du, Gott, hilfst mir. Aber wenn die Welt ein durchbeteter Raum ist, dann wird das spürbar, besonders für die Leidenden und Unterdrückten. Die globale Gemeinschaft der Betenden entfaltet eine Kraft, die Flügel verleiht.  

Sie haben im Jahr 2017 das Buch „religiös & ruhelos. Die Zukunft des Christentums ist politisch“ veröffentlicht. Religiös und ruhelos – was verstehen Sie darunter?

Das Politische ist kein abgegrenzter Bereich, um den sich Parlament und Regierung kümmern. Was wir essen, wie wir die Schöpfung bewahren, wen wir lieben, ob wir einem anderen Menschen dabei helfen dürfen, sein Leben zu beenden – alles ist Gegenstand politischer Diskussion. Die Stimme eines ethisch reflektierten Nachdenkens wird dafür gebraucht. Weil ich nicht möchte, dass die öffentliche Kommunikation auf das Engagement der Christen ver-zichten muss, sage ich: Die Zukunft des Christentums ist politisch.

Sie schreiben im Buch: „Der Weg zu Gott führt nicht aus der Welt hinaus, sondern tief in die Wirklichkeit der Welt hinein. Nicht die Leiden der Kirche am Schwinden ihrer Ressource sind die Sorge von Christinnen und Christen, sondern die Leiden Gottes in der Welt.“ Wo leidet Gott heute?

Diese Sätze schließen an Dietrich Bonhoeffers Nachdenken über eine ­Kirche für andere an. Immer dann, wenn Menschen die Würde geraubt wird, ihnen Lebenschancen verwehrt,  Menschenrechte mit Füßen getreten werden, muss Kirche da sein. Hinzu kommt: Ich bin mir ­sicher, dass Gott auch an seiner ­Kirche, oder besser, an seinen ­Kirchen in ihrer realen Präsenz ­leidet.

Sie formulieren „religiös und ruhelos“. Dorothee Sölle formuliert „Mystik und Widerstand“. Mich bewegt eine Lebensweise, die gegenwärtig ist für dieses Leben, für die Fragen und Themen. Und, gegenwärtig sein für das Unverfügbare, den Gottesfunken in allem. Welches Potenzial steckt in diesen Lebensweisen?

Das Potenzial der Befreiung! Ich antworte mit Pierre Stutz, mit dem ich in meiner Zeit beim Kirchentag ab und an kommuniziert habe und den ich sehr schätze. Er spricht vom Glück der Unvollkommenheit, von der Fähigkeit, sich mit Menschen gelassen-kämpferisch für das Leben stark zu machen. Das Potenzial liegt also darin, sich vom Anspruch der Vollkommenheit zu befreien und in der Fähigkeit, sich gelassen mit ­anderen, Kolleginnen Nachbarn oder Andersdenkenden zu verbinden und Widerstand an der richtigen Stelle einzusetzen.

Sie vertreten die Überzeugung, dass die Zukunft des Christentums politisch sei. Welche konkreten Schritte müssen wir als Kirche gehen?

Die evangelischen Kirchen stecken in keiner einfachen Lage. Ob wir das begrüßen oder nicht - Zahlen spielen eine große Rolle. Aber sie dürfen nicht dominieren. Nicht auf den Synoden, nicht in den Gemeinden. Ich plädiere für ein offenes, wertschätzendes und gelassenes Mit­­ei-nander. Die Vielfalt der Kirche – gerade in der EKBO – ist eine Riesenchance, Vorbild zu sein für eine Gesellschaft, die sich in Teilen stark polarisiert. Kirche hat eine Mitte und wenn sie sich um diese sammelt, so mache ich mir um das Konkrete keine Sorgen.

Zum Weiterlesen: 

Ellen Ueberschär, „religiös & ruhlos. Die Zukunft des Christentums ist politisch“, Verlag Kreuz, Freiburg 2017

Ellen Ueberschär ist evangelische Theologin, bis 2017 Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages und seit 2017 Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

Erinnern. Gedenken an den Prager Frühling 1968

Gedenken an den Prager Frühling 1968, Veranstaltung am 21. August um 18 Uhr in der ­Johanneskirche Berlin Schlachtensee.

Im Sommer 1968 hofften die Menschen in Prag, der Hauptstadt der damaligen Tschechoslowakei, auf Frieden und sehnten sich nach Freiheit und Demokratie. Doch der Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes am Morgen des 21. August 1968 machte alle Hoffnungen zunichte. Die 1932 geborene Tamara Reiman war als Dolmetscherin bei dem entscheidenden Treffen im Juli/August 1968 zwischen dem sowjetischen und dem tschechoslowakischen Politbüro unter der Leitung von Leonid Breschnew sowie Alexander Dubček dabei. Am 21. August um 18 Uhr wird der Synchronsprecher Till Hagen den bisher unveröffentlichten ­Bericht von Tamara Reiman verlesen. 

Mit Pfarrerin Marion Gardei,  Beauftragte für Erinnerungskultur der EKBO, Anna Kaminsky, Direktorin der Bundesstiftung Aufarbeitung, Peter Brandt, ­Historiker und Professor i.R. für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversität in Hagen, Pfarrer Günter Hänsel.

Friedensgebet, 21. August, um 19.30 Uhr in der Johanneskirche Schlachtensee. Insbesondere wird für die Freilassung inhaftierter Oppositioneller in Belarus gebetet werden. 

Politischer Gottesdienst, 22. August, um 10.30 Uhr in der Johanneskirche Schlachtensee. Die Predigt hält Pfarrerin Ellen Ueberschär. 

Um Anmeldung über das Gemeindebüro oder die Webseite wird gebeten, Eintritt frei. Besucher benötigen ein negatives Testergebnis, eine Zweifachimpfung oder eine Genesungsbescheinigung.

www.gemeinde-schlachtensee.de/gemeinde/geschichte/prag-1968-2021.html

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1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

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