Am 21. November jährt sich zum 250. Mal der Geburtstag von Friedrich Schleiermacher (1768–1834)
Von Christian Stäblein
Und dann ist der Tag da. 21. November. Der 250. Geburtstag Friedrich Schleiermachers. Bei Jubiläen ist es nicht viel anders als bei Geburtstagen. Am Ende von Vorbereiten, Vorfreuen und Überlegen kommt der Tag und für einen Moment wird das Leben durchsichtig auf seinen Grund, denn der Augenblick des Geburtstages führt vor Augen, dass wir unser Leben nicht selbst gemacht haben, es gegeben ist. Ja, um es in den Worten des Jubilars zu sagen: Wir schauen und erfahren gerade an diesem Tag unser Leben als „schlechthin abhängig“ oder, wer es lieber anders formulieren möchte: als ganz und gar empfangen, verdankt.
Geburtstage wie Jubiläumstage haben ihre eigene Agenda. Es beginnt zumeist mit dem Hinfahren. Feiern und Jubilieren leben davon, dass wir körperlich, leiblich dabei sind. In diesem Jahr sind uns, sind mir die Orte, an denen Schleiermacher gewirkt hat, noch mal nahe gekommen, ganz handgreiflich. Mehrere kleine Videoclips erzählen auf der EKBO-Homepage von Besuchen in Niesky und Potsdam, in der Charité, in der Theologischen Fakultät oder im Schleiermacherhaus. Wie stets bei solchen Besuchen hat es etwas Berührendes, ein Leben und die Beziehung dazu so unmittelbar vor Augen zu haben, etwa: Hier hat er also die Schulbank gedrückt, hier die Kranken getröstet, hier wohl gepredigt, hier gelehrt. Man ahnt beim Aufsuchen die Atmosphären, den aufklärerischen Geist, die Blüte eines liberalen Preußen, die Frömmigkeit des Herrnhuters. Man ahnt aber zugleich auch die Brüche und Wendungen eines Lebens.
Nicht freiwillig der Weg in die Hofpredigerstelle nach Stolp, den er als Verbannung empfand. Mit Wagemut eben und deshalb zunächst ohne Verfassernamen die Reden „Über die Religion“ 1799. Schließlich, wie stets bei hohen Geburtstagen und erst recht Jubiläen: Die Anwesenheit vor Ort macht auch den historischen Graben sichtbar.
Die Welt ist anders, in vielem unvergleichbar geworden. Das Wohnhaus steht nicht mehr. Die Schule hat Flachbildschirme zur Weg- und Stundenplanweisung. Die Kapelle im Krankenaus ist überkonfessionell und multireligiös (und das ist richtig so). Der Blick auf Zeitverhaftetes und Wandel macht erst recht deutlich, wie herausfordernd das Vorhaben, das Zeitlose oder zumindest das heute noch Aktuelle dieses Jubilars herauszuarbeiten, ja wie recht unmöglich, wenn die Aufgabe nicht ganz in Schleiermachers eigenem Sinne aufgefasst wird, als da wäre: im Sinne einer Vermittlung. Nichts spricht einfach so für sich, alles braucht Übersetzen und Vermitteln, um neu Eigenes zu werden.
Also hinfahren – real oder gedanklich –, das gehört zur Agenda von Geburtstag und Jubiläum. Und dann dort? Klar: Blumen, Gratulation, gesprochen, gesungen und den Jubilar würdigen. Das haben wir kräftig getan, so scheint mir, in diesem Jubiläumsjahr. Schleiermachers Bedeutung für ein modernes, am Subjekt orientiertes Verständnis von Glauben, ein Begriff davon, was es heißt, dass der Glaube eigener, angeeigneter Glaube werden muss, dass in ihm und durch ihn als Erstes ein neues Verhältnis zu sich selbst entsteht, eben ein verdanktes, empfangendes, das haben wir dieses Jahr neu durchbuchstabiert. Gut so.
Wir staunen ja manchmal über die Radikalität von Individualisierung und Subjektivität in der Moderne und Postmoderne. Da lohnt es sich, auch darüber zu staunen, wie stark die religiös dazu notwendigen Gedanken bei Schleiermacher vorgedacht und im Grunde bereits ausformuliert sind (und wie bei ihm Geselligkeit als Gegenstück zur Individualität eben auch eine Rolle spielt).
Kirche ganz sie selbst
Das laut zu sagen, gehört gewiss zu diesem Jubiläumsgeburtstag. Wie auch all das andere Rühmen eines in vielerlei Hinsicht universellen Genies: Gesangbuchreformer – klar, Lieder müssen zu unseren Liedern werden –, Bildungsreformer – aber ja, Kinder müssen selber werden, nicht Traditionsautomaten oder Abziehbilder von wohlgemeinten Vorbildern –, Kirchenreformer – selbstverständlich: Kirche muss ganz sie selbst werden, nicht bloßer Kompagnon von Staat und Gesellschaftsräson, und – ich will es nicht unerwähnt lassen – Übersetzungsreformer: Schleiermacher verdanken wir die bis heute bestens verständliche Platonübersetzung. Sie merken, ich singe wieder mein Geburtstagslied für Schleiermacher, das ich schon das Jahr über hier in der Kirchenzeitung mit einer Kolumne zu einzelnen Zitaten Monat um Monat angestimmt habe. Jetzt, zum Jubiläumstag, alle Strophen auf einmal.
Zur Agenda des Jubiläums und in die schönen Gratulationsreden gehört auch die kritische Auseinandersetzung. Die Sache wird sonst unglaubwürdig, kein Jubilar erkennt sich wieder, wenn nur Lobeshymnen gesungen werden, klebrig, unwürdig wäre das. Ich habe im Blick auf Schleiermacher, dessen Ausführungen zu einer Art erster Theologie der Religionen gar nicht hoch genug geschätzt werden können, einige meiner Ansicht notwendig kritische Sätze zu seinen Gedanken über „das Judentum“ geschrieben.
Es finden sich – auch das gehört zum Jubiläum – schnell die, die sofort dem Jubilar zur Seite springen, differenziert und zutreffend darauf hinweisen, so könne und wolle der Geehrte es doch nicht gemeint haben, hier würden heutige Maßstäbe nachträglich angelehnt und das könne nicht richtig sein. Gewiss – und gewiss gut, dass das Institut Kirche und Judentum nicht zuletzt zu diesen Fragen einen Studientag am 26. November abhält. Ohne kritische Auseinandersetzung keine echte Würdigung, weder am Geburtstag noch zum Jubiläum.
Wenn am Festtag alle Reden gehalten und Lieder gesungen sind, die gesellige Runde und Tafel ihre anfängliche Steifheit tatsächlich abgelegt hat, stellt sich manchmal eine Freiheit, ja eine Art Erinnerungsflow ein, der den Tag erst unvergesslich macht. Mancher und manche erzählt womöglich, welcher Satz Schleiermachers sie immer geprägt und auf immer neue Spuren gesetzt hat. Das sind vielleicht die schönsten Momente eines Jubiläums, weil sie einem in einer bestimmten, konkreten, individuellen Weise das Gefühl geben: Die Gedanken sind weitergegangen, verwandelt, vermittelt, Neues verwirklichend. Es ist womöglich der Moment, in dem jemand sagt: Passt auf, ich lese jetzt was von Schleiermacher vor. Zieht also das gelbe, erkennbar benutzte kleine Reclam-Heft aus der Tasche, das da schlicht „Über die Religion“ überschrieben ist und liest mit der ersten Rede beginnend so: „Apologie. Es mag ein unerwartetes Unternehmen sein, und Ihr mögt Euch billig darüber wundern, dass jemand (…) Gehör verlangen kann für einen von ihnen so ganz vernachlässigten Gegenstand“: die Religion! Scheint doch – mal von der Sprache abgesehen – direkt für heute und morgen geschrieben. Und also losgelesen, wieder losgelesen am Geburtstag.
Ich wurde gefragt, was für mich das Neue im Jubiläumsjahr gewesen ist. Ich antworte ganz einfach: beim Wiederlesen merken, wie aktuell und, ja auch, wie radikal reformerisch, ja denkerisch geradezu revolutionär Schleiermacher war und geblieben ist. Man muss ihn nur wieder lesen. Er ist uns in so vielem immer noch voraus.
Zur Agenda des Geburtstags gehört etwas, das ich nun fast übergangen hätte: Geschenke. Denken im Sinne Schleiermachers macht freigiebig. Schenken wir uns ein paar Gedanken Schleiermachers zum Geburtstag. Macht freigiebig!
Weitere Infos zu Schleiermacher:
www.ekbo.de/schleiermacher
Entdecken Sie dort seine Lebensstationen auf sechs virtuellen Spaziergängen mit Propst
Christian Stäblein, von Niesky nach Berlin. Zum Download finden Sie auch das Gemeindemagazin der EKBO über
Schleiermacher, zu bestellen per Telefon: (030)24344301