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„Mystik ist kein Deal“

Am 30. September wäre Dorothee Sölle 90 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass schreibt der Liedermacher, Schauspieler und Autor Konstantin Wecker über die Theologin, die ihm so oft aus der Seele sprach.

<span style="font-size: 11px;">Dorothee Sölle um das Jahr 1971. Am 30. September wäre sie 90 Jahre alt geworden. Foto und Gedicht: Archiv Wolfgang Fietkau Verlag</span>



Zum 90. Geburtstag von Dorothee Sölle

Von Konstantin Wecker

Zu den Büchern, die mich seit der ersten Lektüre gepackt und seitdem nicht mehr losgelassen haben, gehört mit Sicherheit „Mystik und Widerstand“ (1997) von Dorothee Sölle (1929–2003). Es gehört zu jenen Werken, bei denen ich das Gefühl habe, hier schreibt mir jemand aus der Seele, ja, fast als würde diese Autorin mich persönlich kennen. Immer schon habe ich diese streitbare und friedensbewegte Theologin bewundert.

Das, was ich seit über 20 Jahren mit meinem Liedern, Büchern und Artikeln zu erreichen versuche, eine Annäherung sich politisch engagierender Menschen an spirituell Suchende und umgekehrt, ist mit diesem Buch Zeile für Zeile besser begründet, als ich es je könnte. „Mystik ist die Erfahrung der Einheit und der Ganzheit des Lebens. Und mystische Lebenswahrnehmung, mystische Schau ist dann auch die unerbittliche Wahrnehmung der Zersplitterung des Lebens. Leiden an der Zersplitterung und sie unerträglich finden, das gehört zur Mystik“, schreibt Sölle.

All die wichtigen Erfahrungen kleiner Kinder, das Erleben des Staunens, der kleinen Wunder, nicht rational erklärbare Wahrnehmungen, unsichtbarer Freunde und so vieles mehr aus den rein geistigen Bereichen, werden den Menschen in unserer Kultur mit einer schnell überwundenen Kindheit gründlich ausgetrieben. „Wir erklären sie dann zu Spinnereien, wir privatisieren und banalisieren sie mit den beliebten Nichts-als-Formeln. (…) Einbildung, schlechte Verdauung, Überreizung müssen herhalten.“ Wir treiben sie unseren Kindern aus und zerstören sie zugleich in uns selber.

Die Erfahrung des unbekannten Lebens zurückholen
Vielleicht ist die Trivialisierung des Lebens die stärkste mystische Macht in uns. Es wird dir nicht verboten zu spinnen oder zu träumen. Du kannst alles denken, fühlen, erfahren und mitzuteilen versuchen. Aber: „Sobald es ans Licht tritt, wird es entwichtigt, sinnlos gemacht, abgetan, weil es sich in Bezug auf die bei uns herrschende Währung nicht konvertieren lässt. Es bringt nichts, es lässt sich nicht verwerten, es ist ohne Entgelt.“ Was wirklich zählt, ist nicht in Euro und Cent abzählbar. Ja, auch unser Verhältnis zum Göttlichen lässt sich nicht in Kategorien von Leistung und Gegenleistung pressen. „Mystik ist kein Deal“, schreibt Sölle mit der ihre eigenen rhetorischen Schärfe.

„Mein Ziel ist es, die Erfahrung des unbekannten Lebens ,zurückzuholen‘ als etwas, das uns gestohlen wurde, noch ehe wir geboren waren. Ich will mich dem schicksalhaften Zwang der Moderne nicht absolut unterwerfen und entsprechend nicht die Wissenschaft zu dem totalitären Gott machen, neben dem wir keine anderen Götter haben sollen“, schreibt Dorothee Sölle. Diesen schicksalhaften Zwang der Moderne nannte Max Weber die „Entzauberung der Welt“ und genau dieser Entzauberung will auch ich mich nicht beugen.

Mystik kann Widerstand sein
Dass man ein mystischer, also ein dem Wunderbaren und Ewigen hingegebener Mensch sein kann und gleichzeitig ein politisch wacher Mensch, der sich dem Unrecht in jeglicher Form widersetzt, das wird vielfach zugestanden. Beide Bereiche gelten aber eher als getrennt. Jemand geht tagsüber auf eine Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit und meditiert dann abends im stillen Kämmerlein. Dass aber Mystik selbst Widerstand sein kann, ist ein für die allgemeine Wahrnehmung noch eher fremder Gedanke.

Um dies zu verstehen, muss man seinen Begriff von „Widerstand“ weiten, wie es Dorothee Sölle getan hat: „Der Begriff von Widerstand, der an vielen Stellen mystischer Tradition aufleuchtet, ist weit und vielfältig. Er beginnt mit dem Nicht-Zuhausesein in ‚dieser Welt‘ der Geschäfte und der Gewalt. Die Nicht-Übereinstimmung, der Dissens, führt zu einfachen Formen des nicht-konformen Verhaltens.“

Der Widerstand zeigt sich nicht zuerst darin, was man kämpferisch auf die Straße trägt, sondern darin, wer man ist – wer man geblieben ist trotz eines Systems von Wahn und Zwang, das einen beständig zum Selbstverrat nötigen will. Gegen den allgegenwärtigen Händler-Geist, die Dominanz des Zweck- und Effizienzdenkens ist die Liebe zum Schönen selbst schon eine Widerstandshandlung. In einer wunderbaren Formulierung schreibt Dorothee Sölle: „Das Schöne zieht uns zu Gott, bringt uns in einen Zustand, der mit Kaufen und Verkaufen nichts zu tun hat, aber mit Staunen und Stillwerden, mit Sich-Wundern und vielleicht Summen, mit Sich-Vergessen und mit Glück.“

Freilich ist eine gerechtere Welt wünschenswert – und sie wird von den Profiteuren des Unrechts nicht ohne unseren beharrlichen Einsatz zu erringen sein. Aber der Erfolg darf nicht zum rigiden „Warum“ absolut jeder menschlichen Tätigkeit werden. Der Sieg im Klassenkampf könnte von genussunfähigen Siegern nicht mehr genossen werden. Ohne Freiheit, Schönheit und Spiel gibt es kein lebenswertes Leben — selbst in einer noch so gut konstruierten Gesellschaftsordnung.

Das Paradoxe ist: Wer den Erfolg anbetet, selbst den im Kampf gegen den allgegenwärtigen Ökonomismus, hat sich den Denkmustern seiner Gegner bereits unterworfen. Dorothee Sölle schreibt hierzu: „Aber das letzte Kriterium der Beteiligung an widerständigem, an solidarischem Verhalten kann nicht der Erfolg sein, das hieße, immer noch nach der Melodie der Herren dieser Welt zu tanzen.“ Politischer Erfolg, der den nach Umsturz Strebenden übermäßig dem angleicht, was gestürzt werden muss, ist nichtig. Was wäre denn unser Erfolg wert, wenn es nicht mehr wir selbst wären, die ihn erringen? „Es geht ums Tun und nicht ums Siegen“— so habe ich das in meinem Lied über die „Weiße Rose“ genannt. Also lasst uns weiterhin unsere eigenen Melodien singen, und pfeifen wir auf die Herren dieser Welt. Das wunderbare Werk von Dorothee Sölle gibt uns hierzu das nötige Rüstzeug in die Hände.

Konstantin Wecker ist Musiker, Liedermacher, Komponist, Schauspieler und Autor.

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Dorothee Sölle

Die Theologin wurde am 30. September 1929 in Köln geboren und starb am 27. April 2003 in Göppingen (Baden-Württemberg). Sie war eine deutsche Schriftstellerin, Pazifistin und globale Friedensaktivistin. 1968 gründete sie in Köln das ökumenische „Politische Nachtgebet“, dem es um die Verbindung zwischen aktuellen Themen wie Vietnamkrieg, Obdachlosigkeit, Dritte Welt mit Meditation, Diskussion und gemeinsamen Aktionen ging. Die Sprachwissenschaftlerin hatte ein besonderes Augenmerk für feministische und politische Theologie, die Theologie der Befreiung und für Mystik.

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1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

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