Von Hannes Langbein
Es geschehen Zeichen und Wunder – jedenfalls in Gadow in der Prignitz. Dort, etwa 20 Kilometer südlich von Wittstock gelegen, am Rande des Truppenübungsplatzes Wittstock, des sogenannten Bombodroms, gibt es eine Dorfkirche, in der sich eine erstaunliche Apsisbemalung befindet: Schriftfragmente der Zehn Gebote und Schriftfragmente der biblischen Seligpreisungen, über- und ineinander gemalt in ein Schriftbild, das wie eine Schriftcollage aus Altem und Neuem Testament wirkt: „Du sollst nicht …“ – „Selig sind …“.
Die Geschichte geht so: Als die Kirche 1863 erbaut wurde, verfügte sie zunächst über eine Apsisausmalung mit den zehn Tafeln der Zehn Gebote. Doch weil dem ersten Pfarrer der Kirche, Pfarrer Schuchardt, diese prominente Platzierung des Alten Testaments im Altarraum nicht zusagte, verfügte er noch vor Einweihung der Kirche eine Übermalung der Zehn Gebote mit den Worten der Seligpreisungen. Weil diese kurz vor der Einweihung vermutlich eilig ausgeführt wurde, begannen die Zehn Gebote nach einer Zeit wieder durchzuschimmern – bis sie schließlich ganz sichtbar wurden und sich mitten in die Seligpreisungen hineinschoben.
Zeichen an der Wand – der Vorgang ist nicht nur deshalb so spektakulär, weil er eine außergewöhnliche ästhetische Konstellation geschaffen hat: ein Palimpsest, eine Schriftcollage, die zwei zentrale Texte des Christentums, die sich selbst auslegend aufeinander beziehen, übereinander blendet. Sondern vor allem, weil auf diese Weise eine theologische Debatte sichtbar wird, an der sich die gesamte Rezeptionsgeschichte biblischer Schriften abgearbeitet hat – nicht zuletzt auch mit Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Judentum.
Ein Segen, dass das erstaunliche Bild, das die Bezogenheit der Texte sichtbar macht, nun auch in dieser doppelten Gestalt restauriert werden soll. Darüber hinaus soll die Kirche im Zuge einer umfassenden Sanierung neue Glasfenster über den Schriftfeldern erhalten. Es werden zeitgenössische Fenster sein, weil sich die ursprüngliche Gestalt nicht rekonstruieren ließ. Eine hoch spannende Aufgabe für die zum Wettbewerb eingeladenen Künstler*innen.
Pfarrer Hannes Langbein ist Direktor der Stiftung St. Matthäus.