Zeitzeugen, die über die Verbrechen der Nazis berichten, gibt es kaum noch. Jens-Christian Wagner, Historiker an der Universität Jena und Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie ehemals Leiter der niedersächsischen Gedenkstätten, sieht darin noch kein großes Problem. Mehr Sorgen macht ihm die „hohle, zum Ritual erstarrte Gedenkkultur“. Er fordert ein echtes Reflektieren – denn dann werde klar, dass viele Faktoren, die den Aufstieg der Nazis ermöglichten, heute noch wirksam sind. Mit ihm sprach Nils Sandrisser (epd).
Herr Wagner, die Generation der Zeitzeugen des Nationalsozialismus stirbt gerade. Was macht das mit unserer Erinnerung an diese Zeit?
Insgesamt spielt der Abschied von den Zeitgenossen in der Praxis der Gedenkstättenarbeit nicht die Rolle, die ihr manchmal zugeschrieben wird. Auch vor 10 oder 20 Jahren haben 99,9 Prozent aller Besucherinnen und Besucher einer Gedenkstätte dort keine Überlebenden angetroffen. Natürlich gibt es das Format des Zeitzeugengesprächs, insbesondere bei Gedenktagen oder in Schulen. Aber eine größere Rolle für die wissenschaftliche Aufarbeitung als die Überlebenden selbst spielen ihre Berichte, und die sind umso wertvoller, je zeitlich dichter am historischen Geschehen sie abgegeben wurden. Denn nach langer Zeit kann man vielfach nicht mehr unterscheiden, was man selbst erlebt oder gelesen oder von anderen gehört hat. Menschliche Erinnerung ist nun einmal nicht exakt.
Und jenseits der wissenschaftlichen Aufarbeitung?
Sehr schmerzlich ist der Abschied von den Zeitzeugen im Hinblick auf unsere Erinnerungskultur allgemein. Überlebende haben in der Vergangenheit immer ihre Stimmen erhoben, wenn die Schoah angezweifelt wurde, wenn Antisemitismus oder Rassismus in Erscheinung getreten sind. Sie waren eine Art Schutzschirm für unsere Gesellschaft gegen das Abdriften nach Rechts. Dieser Schutzschirm ist brüchig geworden. Das sieht man aktuell nicht zuletzt an den unsäglichen Gleichsetzungen der Corona-Schutzmaßnahmen mit NS-Verbrechen.
Vielfach wird beklagt, das Gedenken an die NS-Zeit sei zu einem hohlen Ritual geworden. Was wäre denn nötig, um von einem passiven Erinnern hin zu einer aktiven Aufarbeitung zu kommen?
Ich persönlich habe schon Probleme mit dem Begriff „Erinnern“. Er wird von allen hochgehalten, vor allem in Sonntagsreden an Jahrestagen. Der Begriff ist so etwas wie ein erhobener Zeigefinger. Man muss sich fragen, an was sich eigentlich 16-Jährige erinnern sollen, wenn sie eine Gedenkstätte besuchen. Erinnern kann man sich ja nur an etwas, das man selbst erlebt hat. Wenn man dann Erinnerung einfordert, verpufft das entweder wirkungslos oder löst Abwehrreaktionen aus. Eine Auseinandersetzung – das ist der passendere Begriff – muss immer selbstbestimmt und freiwillig sein.
Eine offensichtliche Abwehrreaktion ist ja die Verdrängung. Fast 29 Prozent der Deutschen sind nach einer Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2019 der Meinung, ihre Vorfahren seien im Widerstand gewesen und hätten Opfern geholfen. Tatsächlich lag dieser Anteil bei unter 1 Prozent. Was ist gegen derartige Verdrängung schmerzhafter Tatsachen zu tun?
Die heutige Erinnerungskultur hat wenig mit reflexivem Geschichtsbewusstsein zu tun. Sie hat sich viel zu lange darauf beschränkt, zu trauern. Auch wenn es richtig ist, um die Opfer zu trauern, fehlt das Nachdenken darüber, warum diese Menschen überhaupt zu Opfern geworden sind. Das wiederum heißt, nachzufragen, wer eigentlich die Täterinnen und Täter waren und wie ihre Motivation war – also warum viele mitgemacht haben, und zwar nur in den wenigsten Fällen auf Befehl, und warum es eben nicht breiten Widerstand gegeben hat.
Warum gab es den nicht?
Das Regime hat diesen Menschen Integrationsangebote gemacht, die bereitwillig angenommen wurden. Das emotionale Angebot, dazuzugehören zum Beispiel, dieses Wechselspiel zwischen „Die“ und „Wir“. Oder Kriminalisierungsdiskurse: Man erzählte, dass KZ-Häftlinge gefährliche Verbrecher seien, vor denen die deutsche Gesellschaft geschützt werden müsse. Oder Verheißungen der Ungleichheit: Den Deutschen wurde erzählt, es gehe ihnen besser, wenn es anderen, etwa den Juden oder den Zwangsarbeitern, schlechter geht. Das hatte subjektive Aufstiegserfahrungen zur Folge. Die Arbeiter in den Betrieben, die vorher in der Hierarchie ganz unten standen, hatten in den Zwangsarbeitern plötzlich jemanden, der noch weiter unten stand. Rassismus, Antisemitismus und autoritäres Denken spielte bei all dem natürlich auch eine Rolle.
Gibt es dabei auch etwas für das Heute zu lernen?
Ich glaube in der Tat, dass man aus der Geschichte lernen kann. Und das tun wir viel zu wenig. Wenn man sich die verschiedenen genannten Faktoren anschaut – insbesondere die Verheißungen von Ungleichheit oder die Kriminalisierungsdiskurse in Bezug auf Ausgegrenzte oder autoritäres Denken, dann stellt man fest, dass das gar nicht genuin nationalsozialistisch ist. Diese Faktoren entfalten auch heute noch ihre Wirkung. Man denke an die AfD, die unter dem Stichwort „solidarischer Patriotismus“ die alte Volksgemeinschaftsideologie in neuen Schläuchen präsentiert. Hier könnten wir Aktualitätsbezüge jenseits falscher historischer Analogien herstellen. Das wäre aus meiner Sicht um ein Vielfaches effektiver, als mit dem erhobenen Zeigefinger zu kommen und zu sagen „Erinnert euch!“.
Menschen sterben, aber Orte bleiben. Können Gedenkorte die Funktionen der Zeitzeugen ersetzen?
Mit dem Abschied der Zeitgenossen werden die Orte als Quellen wichtiger. Die ehemaligen Lager sind Tatorte, sie sind Schmauchspuren der Verbrechen. Sie haben einen Beweiswert, der bleibt, auch wenn die Zeitzeugen nicht mehr sind. Das heißt im Umkehrschluss aber, dass wir nicht gut beraten sind, diese historischen Quellen zu rekonstruieren, denn dann würden wir sie potenziell fälschen.
Das gilt übrigens auch für die Avatare von Zeitzeugen, also Hologramme. Die Zeitzeugin Anita Lasker-Wallfisch beispielsweise wurde befragt und dabei aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen. Man kann ihrer virtuellen Nachbildung Fragen stellen, und dieses Gebilde, das Frau Lasker-Wallfisch darstellt – das sage ich mit Bedacht so distanzierend – gibt dann Antworten, die vielleicht auch Frau Lasker-Wallfisch geben würde. Es sind ihre echten Worte, aber sie werden durch Logarithmen zusammengefügt. Und gegen diese digitalen Nachbauten gelten dieselben Einwände wie bei Orten: Da müssen wir ganz, ganz vorsichtig sein, damit wir die Glaubwürdigkeit unserer Arbeit nicht gefährden.
Mitunter wird die Einrichtung von Gedenkorten sogar bekämpft. Auf dem Bückeberg bei Hameln, wo einst die Reichserntedankfeste stattfanden, ist mittlerweile ein „Dokumentations- und Lernort“ entstanden, der im Vorfeld vor Ort auf massiven Widerstand traf. Woran liegt diese Aversion?
Bei der Einrichtung dieses Orts auf dem Bückeberg war ich als Leiter der niedersächsischen Gedenkstättenstiftung beteiligt, und habe in der ganzen Zeit meiner Arbeit für Gedenkstätten noch nie so eine aggressive Anti-Stimmung erlebt. Ich glaube, wenn es am Bückeberg ein KZ gegeben hätte und man hätte dort eine Gedenkstätte für das KZ eingerichtet, hätte es weniger Protest gegeben. Und zwar genau aus dem Grund, dass da die Täterschaft externalisiert werden kann auf die böse SS, die angeblich mit den normalen Menschen nichts zu tun hatte. Das meine ich mit „Trauern ohne Nachdenken“ und ohne die Frage zu stellen, warum es überhaupt zu diesen Verbrechen kam. Denn wenn man sich diese Frage stellt, muss man sich mit der deutschen Gesellschaft auseinandersetzen. Und genau das wird am Bückeberg getan, wo die Massen ihrem Führer freudetaumelnd zugejubelt haben.
Es geht also nicht um das Erinnern an Schuld, sondern die Aufarbeitung damaliger und heutiger Verantwortung. Wie erreicht man Menschen, die keine Verantwortung übernehmen wollen – oder, wenn man es weniger vorwurfsvoll ausdrücken will, nicht dazu in der Lage sind?
Denen muss man sagen, dass Verantwortung ein Grundprinzip des gesellschaftlichen Miteinanders ist. Zur Verantwortung gehört, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen und aus historischen Fehlern zu lernen.
In der Gedenkkirche Plötzensee in Berlin-Charlottenburg findet am 30. Januar ein ökumenischer Gottesdienst zum Thema „Licht ins Dunkel bringen. Neue Projekte in der Erinnerungskultur“ statt, der im RBB-Kulturradio ab 10 Uhr übertragen wird. Mitwirkende: Pfarrerin Marion Gardei und Pfarrer Lutz Nehk, die Beauftragten für Erinnerungskultur von EKBO und Erzbistum Berlin, sowie Pfarrer Michael Maillard vom Ökumenischen Gedenkzentrum Plötzensee. Eine Teilnahme vor Ort ist nur nach Voranmeldung möglich.
Informationen unter E-Mail: maillard(at)charlottenburg-nord.de