Zur Hauptnavigation springen Zur Suche springen Zum Inhalt springen
RSSPrint

Die verpasste Chance

Über die Kunstschau documenta 15, die Antisemitismusvorwürfe und Grenzen der Kunstfreiheit

Das auf der Kunstausstellung "documenta fifteen" wegen Antisemitismusvorwürfen in die Kritik geratene Gemälde "People's Justice" wurde abgehängt (Foto vom 21.06.2022). Der Aufsichtsrat der documenta hatte die Entfernung beschlossen. Zuvor hatten unter anderem Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) und die hessische Kunststaatsministerin Angela Dorn (Grüne) die Entfernung des Gemäldes des indonesischen Künstlerkollektivs "Taring Padi" gefordert.

Selten stand die wichtigste deutsche Kunstschau so im Fokus, wie in diesem Jahr. Nach immer wieder auftauchenden Antisemitismusvorwürfen stellt sich die Frage, ob es Grenzen der Kunstfreiheit gibt? Die documenta 15 – ein Rückblick

Von Hannes Langbein

Vor knapp einem Monat ging in Kassel die documenta 15 zu Ende. Selten wurde über eine documenta so sehr gestritten wie in diesem Jahr: Die Ausstellung, so die Vorwürfe, habe antisemitischen Weltanschauungen ein Forum geboten. Die Kurator*innen hätten sich ihrer kuratorischen Verantwortung entzogen und sich einer klärenden Debatte verweigert. Zeitweise stand in Frage, ob die documenta nicht abgebrochen werden müsse. Die Geschäftsführerin der Schau trat zurück. Ein Experten­gremium empfahl nach der Prüfung aller Kunstwerke auf antisemitische Motive die Entfernung einiger Kunstwerke. Das Kurator*innenkollektiv kam der Empfehlung nicht nach. Die sogenannte Weltkunstausstellung endete in einem medialen Scherbenhaufen. Alle Fragen offen.

Hoffnungen


Dabei waren die Hoffnungen groß: Als die künstlerische Leitung der documenta 15 im Februar 2019 angekündigt wurde, ging ein Raunen durch den Kunstblätterwald: Das indonesische Kurator*innenkollektiv Ruangrupa sollte die documenta kuratieren. Werte wie Großzügigkeit und Solidarität sollten die Kunstschau leiten. „Lumbung“ – Indonesisch für „gemeinschaftliches Teilen“ – und „Nonkrong“ – „gemeinsames Abhängen“ – versprachen nicht nur eine Erweiterung des Kunst-Wortschatzes, sondern auch ein neues Selbstverständnis der Kunst: weg von Ästhetik, Autonomie und radikaler Individualität der einzelnen Künstlerpersönlichkeit hin zu einem gemeinschaftlichen Arbeiten von Künstler*innenkollektiven an den gesellschaftlichen Problemen unserer Zeit mit Künstler*innen, die selbst von diesen Problemen betroffen sind. 

Auch für das Verhältnis von Kunst und Kirche schien sich ein neues Kapitel anzubahnen: Könnten sich im Horizont des Gemeinschaftsgedankens nicht ganz neue Begegnungsfelder erschließen, wenn  nicht mehr Einzelkünstler*innen mit einer ästhetischen Vision einer Gemeinde gegenüberstehen, sondern zwei „Kollektive“ mit einem Blick für das Gemeinschaftliche und einem Sinn für die Unterdrückten der Erde auf beiden Seiten?

Vorwürfe


Doch noch bevor die Schau begann, gab es erste Risse: Nicht nur, weil sich unter den Bedingungen einer Pandemie das Prinzip von „Nonkrong“ (Slang-Begriff aus Jakarta, der „gemeinsam abhängen“ bedeutet) und gemeinschaft­lichem Kuratieren weniger konsequent durchführen ließ als erhofft, sondern vor allem, weil sich das Kurator*innenkollektiv mit dem Vorwurf konfrontiert sah, es habe dem Israel-Boykottbündnis BDS nahestehende palästinensische Künstlerkollektive eingeladen, aber keine israelischen Künstler*innen. Die Kurator*innen verteidigten sich: Israelische Künstler*innen seien durchaus beteiligt, wollten sich aber nicht auf ihre Nationalität festlegen lassen und seien daher nicht als solche genannt worden. Erstmals standen Antisemitismus-Vorwürfe im Raum, deren öffentliche Diskussion zunächst angesagt, dann wieder abgesagt wurde. 

Nach Eröffnung der Schau kam es noch schlimmer: Ein überdimensioniertes Polit-Wimmelbild der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi auf dem Kasseler Friedrichsplatz, dem Epizentrum der documenta, das die Unterdrückung der indonesischen Bevölkerung mit klar antisemitischen Ausdrucksformen anprangerte, bestätigte die Vorwürfe des Antisemitismus prominent.

Nachdem das Bild zunächst verhüllt und schließlich abgehängt wurde, wurden weitere Werke mit antisemitischen Motiven – etwa palästinensische Propaganda-Filme aus den 1970er Jahren – entdeckt. Bei einer Anhörung im Bundestag wurde mit Blick auf die documenta bereits von einer „Antisemita“ gesprochen und mehr staatliche Kontrolle gegenüber dem künstle­rischen Programm der mit staat­lichen Mitteln geförderten Ausstellung gefordert.

Debatten


Damit war aus der Antisemitismus-Debatte auch eine über die Kunstfreiheit geworden: Was dürfen Künstler*innen zeigen? Wie stark dürfen Kurator*innen oder gar Politiker*innen Einfluss auf künstlerische Ausdrucksformen nehmen? Wer trägt die Verantwortung? Bisher galt das Credo: Die Kunst ist frei! 

Was aber, wenn sie grundlegenden gesellschaftlichen Übereinkünften zuwiderläuft? Wenn sie die Opfer des Nationalsozialismus verhöhnt? Wenn sie Gewalt verherrlicht? Gibt es Grenzen der Kunstfreiheit und, wenn ja, wo liegen sie? 

Während die einen rote Linien überschritten sahen, sahen andere das Ende der Kunstfreiheit heraufziehen: Wer sich die Perspektive des „globalen Südens“ in Deutschland wünsche, der müsse auch mit seinen Perspektiven leben, auch wenn sie westlichen Perspektiven zuwider laufen sollten. Kunst dürfe sich nicht an „Political Correctness“ orientieren. Andere wiesen darauf hin, dass sich politisch motivierte Kunst auch an politischen Maßstäben messen lassen müsse. 

Ruangrupa selbst sah in den Vorwürfen eine neue Form des Rassismus: Gäste aus Übersee müssten zuerst in deutsche gesellschaftliche Übereinkünfte einwilligen, bevor sie in Deutschland tätig werden könnten. Wieder andere sahen darin eine naive bis selbst­gefällige Verweigerungshaltung der Kurator*innen, die so gar nicht zur Debattenkultur des kollektiven Ansatzes passen wollte – und vielmehr den kollektiven Ansatz nutze, um Verantwortung zu delegieren und Verantwortungsstrukturen zu verwischen.

Kontraste


In der Tat fragt man sich im Nach­hinein, warum das Kurator*innenkollektiv die Debatte über die Frage des Antisemitismus nicht stärker im Rahmen der documenta verhandelte: Ein Ausstellungskonzept, das auf radikales Miteinander, Diskurs und gemeinschaftliche Verantwortung setzt, hätte die medial geführten Debatten zu einem Bestandteil ihres Projektes und die documenta zu einem Forum dieser wichtigen Fragen machen können. 

So aber stellte sich ein eigentümlicher Kontrast ein: Denn während die öffentlich geführte Debatte im Laufe der Zeit an Schärfe zunahm und die öffentliche Perspektive auf die Kunstschau prägte, machten Besucher*innen vor Ort eine ganz andere Erfahrung: Sie erlebten in weiten Teilen eine farbenfrohe, spielerisch leichte und zugleich nachdenklich-machende, gesellschaftsbewegte Kunstlandschaft. Sie bot im Stil eines Demo-Camps künstlerischen Positionen von und über marginalisierte Gruppen der globalen Gesellschaft ein Forum, die im klassischen westlichen Verständnis nicht immer als Kunst gelten würden. Kunst-Erleben jenseits der eingespielten Kategorien von Kunst und Kunsthandwerk, Kunst und Kunsttherapie mit einem für ein Kunst-Großevent seltenen Blick für alle Generationen. Ruhe und Kontemplation mit Spielinseln für Kinder und Ruheräumen für Erwachsene.  Hätte dies nicht auch der Boden für die großen Fragen der Kunstfreiheit und des Antisemitismus sein können?

Brücken


Im Fridericianum auf dem Kasseler Friedrichsplatz, dem „Eingangs­gebäude“ der documenta, hätte der Brückenschlag möglicherweise gelingen können. Denn dort fanden sich zwei konträre Perspektiven auf engstem Raum: Ein Kinderspielplatz, der ungewöhnlich genug – inklusive Maltischen und Wickeltischen – gleich zu Beginn der Ausstellung gleichsam zum hermeneutischen Schlüssel der Kunstwahrnehmung aus der schöpferischen Perspektive der Kinder wurde. Nur zwei Etagen höher: Militaristische Propaganda-Filme, die – auf fragwürdig unkommentierte Weise – unter anderem Waffen tragende Kinder und Jugendliche zu martialischer Musik wie zukünftige Märtyrer präsentierten. Schneidender und brutaler hätten die Kontraste nicht inszeniert sein können.

Nach dem zweckfreien, kind­lichen Spiel im Entrée der Ausstellung, das für die farbenfrohe Seite der Ausstellung stehen kann, das instrumentalisierte Leben eines kindlichen Märtyrers, das auf die Traumata verletzten Lebens und die Debatten um deren Darstellung hindeutet. In dieser bis zur Schmerzgrenze provozierenden Spannkraft der Perspektiven hätte sich eine Debatte am Eingangstor zur documenta entzünden können. Mehr als bedauerlich, dass es nicht dazu gekommen ist.

Pfarrer Hannes Langbein ist Kunst­beauftragter der EKBO und Direktor der Stiftung St. Matthäus.

Bilderstreit! Was darf man zeigen? – Antisemitismus

20. Oktober, 19 Uhr, St. Matthäus-Kirche Berlin-Tiergarten

Dass sich über Bilder streiten lässt, zeigen nicht nur die Debatten der Reformationszeit vor 500 Jahren. Noch heute wird leidenschaftlich über Bilder gestritten: Was darf man zeigen und was nicht? Trotz Kunst-, Religions- und Meinungsfreiheit gibt es Sujets, die uns vor die Frage des Bilderverbotes stellen: Mit welchen Bilderverboten haben wir es heute zu tun? Welche sollten wir respektieren und welche sollten wir in Frage stellen? Darüber diskutierten im Laufe des Jahres bilderkundige Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen. Mit Schmähplastiken wie der sogenannten „Wittenberger Judensau“ hat sich zuletzt der Bundesgerichtshof befasst. Die documenta 15 wurde von heftigen Debatten darum begleitet, ob sie einer antisemitischen Weltsicht Vorschub leiste. Zwei ganz unterschiedliche Beispiele, die für das diffizile Verhältnis von Antisemitismuskritik, Kunst und öffentlicher Wahrnehmung stehen: Was darf man zeigen? Welche Gefahr steckt in Kunst? Darüber diskutieren die Literaturwissenschaftlerin Yael Kupferberg und der EKD-Beauftragte für den Kampf gegen den Antisemitismus, Christian Staffa. Es moderiert Hannes Langbein. In Kooperation mit der Evangelischen Akademie zu Berlin. Der Eintritt ist frei. 

Artikelkommentar

Artikelkommentar
captcha
Bitte tragen Sie das Ergebnis der Rechenaufgabe in das Feld ein.
Hinweis: Die von Ihnen ausgefüllten Formulardaten werden lediglich für die Zwecke des Formulars genutzt. Eine andere Verwendung oder Weitergabe an Dritte erfolgt nicht.

Artikelkommentare

(3) Artikel Name Ihr Kommentar
1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

Hier gelangen Sie zur Übersicht über alle Kommentare.