Von Roger Töpelmann
Unter den Gedenkstätten Berlins ist die Gedenkstätte Plötzensee eines der schauerlichsten Mahnmale der Nazi-Herrschaft. Hier wurden zwischen 1933 und 1945 mehr als 2800 Menschen ermordet. Hingerichtet durch die Guillotine oder den Strang. Normalerweise – so dokumentiert es die Gedenkstätte Deutscher Widerstand – kam der Henker zweimal in der Woche. Für jeden Ermordeten kassierte er 80 Reichsmark und eine Ration Zigaretten. Von den teils zerstörten Gebäuden ist heute nicht mehr viel übrig: ein Hof mit einer grauen Mauer, dahinter ein roter Ziegelschuppen. In einem der völlig kahlen Räume sehen die Besucher und Besucherinnen fünf Haken an einer Eisenkonstruktion.
Pfad der Erinnerung
Wie wichtig das Erinnern schon kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs war, zeigt ein Antrag an den Magistrat der Stadt Berlin im Sommer 1946, der einen Wettbewerb für die Ausgestaltung der Gedenkstätte Plötzensee vorsah. Verwirklicht wurde schließlich ein Hof mit einer Gedenkmauer und der Inschrift „Den Opfern der Hitlerdiktatur der Jahre 1933-1945“, dahinter die Richtstätte. Schon 1952 erfolgte die Einweihung des von der Strafanstalt Plötzensee abgeteilten Areals. Eine politisch hochrangige Gedenkfeier findet jährlich am 20. Juli statt, an der unter militärischer Begleitung der dort ermordeten Widerstandskämpfer gedacht wird. Dann versammeln sich auch die Nachkommen der Ermordeten.
Auch Christen engagierten sich schon vor Jahrzehnten für eine Erinnerung an den Widerstand. Sie eröffneten einen „Pfad der Erinnerung“, eine Verbindung zwischen den benachbarten Kirchen: In der evangelischen Gedenkkirche Plötzensee ist mit dem Kunstwerk „Plötzenseer Totentanz“ des Künstlers Alfred Hrdlicka ein herausragendes Beispiel zeitgenössischer Kirchenkunst zu besichtigen. 16 Zeichnungen auf Tafeln gegen das Vergessen.
Die in den 1960iger Jahren erbaute Evangelische Sühne-Christi-Kirche, ist selbst ein Zeugnis des modernen Gedenkens, ein Kirchenbau mit Strahlkraft seiner Architektur. Damals entstand eine neue Wohnsiedlung. Viele Straßen sind hier nach Widerstandskämpfern und Zeugen des christlichen Glaubens jener Zeit benannt. 1964 entstand die Gedenkmauer „Mahnmal zum Gedenken an Schreckensorte der menschlichen Gesellschaft“, eine Ziegelwand mit einer Bodenplatte zwischen Kirche und Gemeindehaus.
Erinnern als Glaubensgeschwister
Dass Erinnern nur in geschwisterlicher Gemeinschaft funktioniert, bestätigten die Katholiken mit der 1963 geweihten Gedächtniskirche Maria Regina Martyrum, die den Blutzeugen der Glaubens- und Gewissensfreiheit während der NS-Zeit gewidmet ist. Das große Altargemälde von Georg Meistermann gibt hier Zeugnis von der Betroffenheit, die eine ganze Generation von Menschen beherrscht haben muss.
Die Aufgabe, dass die Gesellschaft nie vergisst, hat Michael Maillard. Der Pfarrer der Kirchengemeinde Charlottenburg-Nord wurde dafür beauftragt vom Kirchenkreis Charlottenburg-Wilmersdorf. Seit 2000 arbeitet er in der Gemeinde und ist Vorsitzender des „Ökumenischen Gedenkzentrums Plötzensee Christen und Widerstand“. Hier sei, sagt er, eine wohl bundesweit einmalige Gedenkregion entstanden. „Bei uns stehen Christenmenschen im Fokus, die Widerstand leisteten und eine Vertiefung ihres christlichen Glaubens erfahren durften. Woher kriegen Menschen dazu Kraft?“
Ein Schicksal hat ihn besonders bewegt: Liane ist 19 Jahre alt und bereitet sich an einem Abendgymnasium in Berlin-Schöneberg auf das Abitur vor. Sie ist in Berlin geboren und wächst zweisprachig am Viktoria-Luise-Platz im Bayrischen Viertel auf, ihre Eltern waren aus Russland geflohen. An der Schule findet sie einen Freundeskreis, der aus jungen links-orientierten Leuten besteht. Es wird viel und heftig diskutiert. Was kann man tun gegen den Krieg? Gegen Unterdrückung und bösartige Propaganda? In einer Mai-Nacht 1942 kleben sie Protest-Zettel an Straßenlaternen und Hauswände in der Berliner Innenstadt. Liane und die meisten anderen werden erwischt und vor Gericht gestellt. Liane wird zum Tode verurteilt. Wegen „Beihilfe zur Vorbereitung des Hochverrats und zur Feindbegünstigung“. Am 5. August 1943 wird sie im Gefängnis Berlin-Plötzensee mit der Guillotine hingerichtet.
Die tödliche Wirklichkeit
Als Liane Berkowitz im Herbst 1942 verhaftet wurde, war sie im dritten Monat schwanger. Ihr Freund Friedrich (Fritz) Rehmer war ebenfalls Schüler an der Abendschule. Auch er wurde in Plötzensee ermordet. Ihre gemeinsame Tochter Irina, die im April 1943 im Frauengefängnis in der Barnimstraße geboren wurde, starb wenige Monate später in einem Krankenhaus. Über ihren Alltag im Gefängnis, über Begegnungen mit evangelischen Gefängnispfarrern und Besuche des katholischen Gottesdienstes schreibt Liana Berkowitz: „Morgen ist schon der 1. März; wenn man mir vor einem Jahr meine jetzige Lage prophezeit hätte, würde ich laut gelacht haben. Wenn man an all das denkt und die Sonne so scheint wie jetzt, wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an den Tod glauben. Mir scheint manchmal alles nur wie ein schlechter Traum, aus dem ich jeden Moment erwachen muss. Leider ist es die rauhe Wirklichkeit.“
Der Brief wurde 1987 durch Zufall in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem entdeckt.
Zum 70. Jahrestag der Einweihung der Gedenkstätte Plötzensee stellt die Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Zusammenarbeit mit dem Landesarchiv Berlin drei umfassende Ergänzungen der bisherigen Dokumentation vor:
- Das digitale Totenbuch Plötzensee mit 2000 Biografien, Texten, Fotos und Dokumenten.
- Eine Online-Datenbank der Gefangenenkartei des Strafgefängnisses Plötzensee zwischen 1933 und 1945
- Eine neue Online-Ausstellung „Erinnerung und Gedenken“ zur Entstehungsgeschichte der Gedenkstätte.
Die Veranstaltung am Donnerstag, 13. Oktober, 15 Uhr, ist unter www.gdw-berlin.de/livestream abrufbar.