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Trauer und Neuanfang

Rabbiner Nils Ederberg und Pfarrer Andreas Goetze im Gespräch über Tischa beAw und Israelsonntag

Foto: epd

Begleitend zur Kampagne „#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst“ veröffentlicht „die ­Kirche“ jüdisch-christliche ­Interviews. Im August spricht Anna Müller, Beraterin bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, zu Tischa beAw beziehungsweise Israelsonntag mit dem Rabbiner Nils ­Ederberg und ­Pfarrer Andreas Goetze über ­Traumata der jüdischen Geschichte und die späte Umkehr der Kirche. 

Herr Ederberg, welche Bedeutung hat der Tischa beAw als Gedenktag für Jüdinnen und Juden

Ederberg: Tischa beAw hat im ­jüdischen Kalender eine heraus­ragende Rolle. Es ist der traurigste Tag des Jahres und einer von nur zwei vollen Fasttagen neben dem Versöhnungstag, dem Jom Kippur, der in diesem Jahr auf den 15./ 16. September fällt. Voller Fasttag heißt, von Sonnenuntergang bis zum nächsten Abend, wenn drei Sterne zu sehen sind, darf man 25 Stunden nichts essen, nichts trinken, keinen Sex haben, sich nicht schminken. Wir vermeiden alle Dinge, die Freude machen. Auch keine Tora lernen. Außer Texte, die mit der Trauer um die Zerstörung und die Toten zu tun haben.

Wessen wird gedacht?

Ederberg: Tischa beAw ist biblisch der Tag der Zerstörung des Tempels und damit des ersten Exils - der ­Urkatastrophe der jüdischen Geschichte. Er ist nach der rabbinischen Überlieferung auch der Tag der Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer. Alle Katastrophen der jüdischen Geschichte werden am 9. Aw erinnert. Auch die Schoa, der Holocaust, hätte eigentlich auch ihren Platz am 9. Aw. Es ist ein sehr intensiver, ein trauriger Tag. Aber es bedeutet auch, dass die anderen Tage im jüdischen Kalender nicht so intensiv und traurig, sondern fröhlich und normal sind. 

Es wird der Gräueltaten an Jüdinnen und Juden gedacht. Nimmt der Tag die Rolle der kollektiven Trauerbewältigung ein? Auch in Familien?

Ederberg: Ja und Nein. Die ganze jüdische Tradition ist Traumabewältigung. Die Form und die Texte der Hebräischen Bibel sind eine Reaktion auf die Zerstörung des Tempels und des Exils. Fünfmal im Jahr gedenken die Familien unserer individuellen Toten. Insofern ist das nicht primär nicht an Tischa beAw gebunden, sondern im Vordergrund steht das kollektive Gedenken der Katastrophen, die das jüdische Volk im Laufe der Jahrhunderte und Jahr­tausende durchleben mussten.  

Welche Bräuche gibt es?

Ederberg: Wir nehmen den bunten Vorhang vom Tora-Schrein und das Tuch auf dem Lesepult weg. Dann ist die Synagoge nackt. Wir beten auch das Morgengebet ohne den Tallit, den Gebetsschal. Wenn man ihn sonst jeden Morgen trägt, fühlt man sich ein bisschen wie nackt. Das ist im christlichen vergleichbar mit der Tradition am Karfreitag, den Altar abzuräumen und Textilien zu entfernen. 

Herr Goetze, die Interpretation der Zerstörung des Tempels nimmt am Israelsonntag auch eine zentrale Rolle ein. Was zeigt sich da für das Verhältnis von Kirche zum Judentum?  

Goetze: Heute haben wir einen sensibleren Umgang mit dem 10. Sonntag nach Trinitatis als früher. Das entwickelte sich aber erst seit den 1970er Jahren. Der Israelsonntag steht im jüdischen Kalender zwischen dem Tischa beAv, der ­Zerstörung, der Trauer,  und Rosch HaSchana, dem Neujahrstag, also dem Neuanfang. Das ist nicht zufällig. Denn das Evangelium für den Israelsonntag, Lukas 19: „Jesus weint über Jerusalem“, hörten die Kirchen lange Zeit als eine ­Warnung: Passt auf, so geht es ­Menschen, die nicht treu an Gott festhalten. Die Zerstörung Jerusalems wurde interpretiert als Strafe für die Kreuzigung Jesu als des Christus. Gott habe sein Volk verstoßen, so die Interpretation. Das Alte Israel sei vergangen. Das neue Israel sei die Kirche.

Jetzt gibt es einen anderen Blickwinkel. Was hat sich geändert?

Goetze: Ich würde sagen: Es ­beginnt sich langsam etwas zu verändern. Die Deutungslinie der Zerstörung des Tempels als Beweis dafür, das Gottes Erwählung mit seinem Volk nicht mehr gültig und auf die Kirche übergegangen sei, ist noch eine sehr machtvolle Bildwelt. Bis heute ist sie in Predigtmeditationen zu finden. Aber es gab eine Neuorientierung seit Mitte der 1960er Jahre. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste setzte und setzt mit ihren Predigthilfen und Materialien zum 10. Sonntag nach Trinitatis einen neuen Akzent auf das Gedenken an christliche Schuld und ­Umkehr. 

Wie wirkte sich das aus?

Goetze: Das Weinen Jesu wurde nicht mehr so sehr als anklagend ­gedeutet, sondern als ein empathisches, solidarisches Mitleiden und Mitklagen. Jesus klagt nicht an, sondern er klagt und ist traurig über die Zerstörung Jerusalems. Man las den Text als eine Bußaufforderung. Die Kirche begann sich selbstkritisch im Blick auf ihre eigene Schuld zu ­hinterfragen. Und betonte die Verbindung zwischen Judentum und Christentum stärker. Man fragte auch, ob Lukas 19 der richtige Text für den ­Israelsonntag sei. Anfang der 1990er Jahre fügte man einen ­zweiten Evangeliumstext hinzu: die Frage nach dem größten Gebot in Markus 12. Da heißt es am Ende: Du hast wahrhaftig und recht geredet. Jesus und der Schriftgelehrte stimmen inhaltlich überein. Diese Ausrichtung ist bis heute geblieben, auch in der neuen Perikopenordnung von 2018 sind beide Texte enthalten. 

Herr Ederberg, wie wird die Zerstörung des Tempels im Judentum interpretiert, als Tragödie, als Strafe, als Mahnung?

Ederberg: Die Zerstörung des Tempels und die Eroberung Jerusalems bedeutet im Grunde das Ende für Volk, Land, Gott - normalerweise. Die anderen haben gewonnen. Der eigene Gott erwies sich als schwächer als andere. Die Überlebenden orientieren sich neu. Aber die deportierte Oberschicht im Exil sagte: Unser Gott ist nicht nur stärker, er ist der einzige Gott. Die anderen Götter sind nichts. Das ist völlig verrückt! Die Exilanten meinten, die Katastrophe sei nicht passiert, weil Gott schwach oder abwesend war, sondern weil er gerecht war und sagte: Das ist die gerechte Strafe, weil ihr nicht getan habt, was ich euch gesagt habe und weil ihr Gott nicht in rechter Weise verehrt habt. 

Wie beurteilen Sie diese Inter­pretation heute?

Ederberg: Das ist für uns heute sehr schwer nachzuvollziehen, gerade angesichts der Schoa. Aber sie ist der Grund, warum das Judentum diese Ur-Krise überstanden hat. Bei der zweiten Tempelzerstörung war das schon etabliert. Uns steht das als Krisenbewältigung zur Verfügung, aber gleichzeitig regt sich gehöriger Widerstand dagegen. Sichtbar wird er in einem Ritus: Dass wir beten müssen am Morgen ist festgelegt, aber wir tun das am Tischa beAw aus Protest ohne Tallit, den Gebetsmantel, sozusagen als „Dienst nach Vorschrift“. Nicht in der Zerstörung Jerusalems liegt das Problem, sondern in der Frage, wie Gott das zulassen kann. Die traditionelle Antwort ist: Wenn wir besser sind und handeln, wird das nicht wieder passieren. Darum geht es auch in der Tora-Lesung Deuteronomium 4, 25-40 an Tischa beAw. Gott mahnt: Wenn ihr das tut, was ihr tun sollt, wird es euch gut gehen. Wenn nicht, dann nicht. Die Heilsverheißungen hängen vom Verhalten ab. Das ist das Denken hinter Tischa beAw und der ganzen jüdischen Tradition, mit dem wir aber nicht glücklich sind. 

Goetze: Ich glaube, das ist ein ganz entscheidender Blickwechsel. Wenn ich von innen heraus eine Selbstkritik formuliere, ist das etwas völlig anderes, als wenn mir jemand von außen her bedeutet: Das passiert dir, weil du Jesus nicht anerkannt hast. Die Grundfrage für die innerchristliche Debatte ist eine selbstkritische Frage: Wie kann es sein, dass eine Religion der Liebe über Jahrtausende so lieblos mit anderen umgeht? Das ist die eigentliche Frage des Israelsonntags als Bußtag heute.

Herr Ederberg, welche Rolle spielt die Klagemauer heute im ­jüdischen Glauben?

Ederberg: Auf Hebräisch nennen wir den Tempelberg Har Habait, der Berg des Hauses JHWH, des Ha Mikdasch, des Tempels. An der Westseite, Richtung Altstadt, ist die Westmauer, früher sagte man Klagemauer, auf Hebräisch Kotel, die Mauer. Das war der Ort, wo Juden am nächsten an den Tempelberg herankamen. Insofern war er zentral für die jüdische Erinnerung, für die Trauer. Die Mauer ist bis heute für den größten Teil der Juden der zentrale Ort, auch für viele, die nicht sehr religiös sind. 

Wenn Sie beide selbstkritisch auf den interreligiösen Dialog schauen, was würden sie sagen, was könnten wir verbessern?

Ederberg: Jüdische Tradition nimmt sich als die Ältere wahr, die mit dem Christentum eigentlich nichts zu tun hat. Wir waren ja vorher da. Wir sind unabhängig davon. Das ist das eine. Das zweite ist, dass die Synagoge gerade nach der Schoa vor allem als Rückzugsort, als eine Art exterritorialer Grund außerhalb Deutschlands wahrgenommen wurde, wo man sich nicht mit der Umgebung auseinanderzusetzen brauchte. Das führt gegebenenfalls zu einer großen Insularität. Die Frage, wie wir mit unserer Umgebung umgehen, ist natürlich gut und richtig. Aber nicht an Tischa beAw. 

Goetze: Es geht beim Israelsonntag um eine Grundhaltung des respektvollen Umgangs mit dem Anderen und dem selbstkritischen Schauen auf das Eigene. Es bleibt eine Herausforderung, Judenfeindschaft in der Kirche theologisch zu bearbeiten. Wie deute ich die Rechtfertigungslehre nicht antijüdisch? Wie rede ich über Gesetz und Evangelium so, dass das Judentum nicht eine rein gesetzliche Religion predigt und das Christentum die frohe Botschaft? Wie komme ich aus diesen Schwarz-Weiß-Mustern heraus? Der Israelsonntag ist ein Impuls, diese Grundhaltung einzuüben.  Jede Hoffnung für die Menschheit kann immer nur eine dialogische sein. Deswegen möchte ich nicht aus­grenzend glauben, sondern nur im ­Gespräch mit den Anderen. Wir brauchen da ein Miteinander. Daran erinnert der Israelsonntag, wenn er im Sinn des Dialogs und des Lernens verstanden wird. 

Verbunden im Gedenken

„Wenn ich dein vergesse, Jerusalem, soll meine rechte Hand verdorren, meine Zunge soll am Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke.“

Diese Worte des 137. Psalms widerspiegeln die Bedeutung der Zionsstadt für ­Israel. Hier stand der Tempel, in dem Gottes Gegenwart unmittelbar spürbar war, die Stadt war religiöses und politisches Zentrum. Doch mit der Zerstörung von Heiligtum und Stadt durch die Römer im Jahr 70 nach war Israel seiner Mitte beraubt, das Volk wurde auf Jahrhunderte ins Exil getrieben. An diese Katastrophe erinnert Tischa BeAw, der Trauertag, der mit Fasten und Trauergesängen verbracht wird. Das Rezitieren biblischen Klagelieder vergegenwärtigt den Verlust.

Doch das Judentum verharrte nicht in der Zerstörung. Jerusalem blieb als Fokus präsent, indem die Gebete dorthin ausgerichtet werden, in Feier- und Fastentagen wie auch bei traurigen wie freudigen Anlässen der Stadt gedacht wird. Aber ­jüdisches Leben ging weiter und kehrte nach Jerusalem zurück. Bis heute eint Menschen weltweit die Hoffnung auf Zion als Ort, wo „Liebe und Wahrheit sich begegnen, Gerechtigkeit und Frieden sich küssen“ (Psalm 85, 11).

Rabbinerin Ulrike Offenberg

Zoomgespräch

Zum Thema „Verbunden mit der Gegenwart – Tischa beAw beziehungsweise ­Israelsonntag“ lädt „die Kirche“ zu einem Online-Dialog (via Zoom) am Mittwoch, 11. August, um 19 Uhr mit Rabbiner Nils Ederberg und Pfarrer Andreas Goetze. Es ­moderiert Anna Müller. Bitte ­anmelden unter der E-Mail-Adresse: ­dialog(at)wichern.de. Einen Tag vorher erhalten Sie dann die Zugangsdaten.

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1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

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