Von Friederike Höhn
„Da ist mehr Gefühl drin, mehr Ausdruck, mehr als nur Worte. Gebärden, das ist Poesie“, schwärmt Judith und gebärdet immer schneller vor der Kamera. Elisabeth kommt kaum mit dem Dolmetschen hinterher, denn auch die anderen Mitglieder des Berliner Gebärdenchors geraten schnell ins Schwärmen, wenn sie über ihre Leidenschaft erzählen. Vier von ihnen sind heute in der Berliner Lukas-Kirche, dem Sitz der Evangelischen Gehörlosengemeinde. Judith ist per Zoom aus dem Kloster Bestwig zugeschaltet.
Selten haben sich die neun Mitglieder während der letzten Wochen persönlich getroffen, vieles lief über Videochats. Dort haben Kommunikation und Proben nach technischen Anlaufschwierigkeiten gut geklappt. „Auch wenn die spiegelverkehrte Ansicht im Videochat am Anfang eine kleine Herausforderung war“, sagt Judith und lacht. Die asynchrone Übertragung, die für „hörenden Chöre“ – so der Begriff in der
Gehörlosengemeinschaft – das gemeinsame Proben per Zoom oder anderen Programmen schier unmöglich macht, spielte hier eine weniger große Rolle. Und die digitalen Treffen hatten noch anderes für sich: „Da waren wir auch mal alle neun bei den Proben dabei, das ist sehr selten“, erzählt Thomas.
Ein Auftritt eines Gebärdenchors ist nicht mit dem eines „hörenden Chors“ zu vergleichen. Performance, Choreografie und Poesie spielen eine wichtige Rolle. „Wichtig ist eine gute Stimmung, etwa mit Licht oder Kerzen“, beschreibt Marina einen gelungenen Auftritt. Sie ist seit vier Jahren mit dabei. „Synchronität und der Rhythmus müssen passen“, ergänzt Thomas. Für ihn ist die Chorarbeit Meditation. „Sie verbindet mich mit Gott. Und mit der tollen Gemeinschaft, die wir hier haben.“
Thomas ist seit sieben Jahren festes Mitglied des Ensembles, das von Wolfgang Mescher geleitet wird. Die beiden kennen sich schon lange aus der Jungen Gemeinde. Mescher ist Gründungsmitglied, seit über 20 Jahren dabei und hat 2004 die Chorleitung übernommen. Bei Auftritten steht er nicht vor dem Chor, sondern in der Mitte. Je nach Ensemblegröße und Lied gibt es eine eigene Choreografie, die neben den eigentlichen Texten geprobt wird.
Doch einen Großteil der Chorarbeit macht das Übertragen von Liedern in Gebärden aus. Fast jeden Chorsatz, jedes neue Lied, das bei einem Konzert oder im Gottesdienst zur Aufführung kommen soll, übersetzt der Chor selbst. „Zeile für Zeile“, erklärt Thomas. Ein bis zwei Stunden kann es pro Strophe dauern, denn es wird gern diskutiert. Wichtig bei der Übersetzung ist nicht allein der exakte Inhalt. „Beim Übertragen muss man in Bildern denken“, sagt Marina. „Und in Bewegungen. Die sollten ineinander übergehen“, ergänzt Wolfgang. Mit den Jahren ist ein dickes Heft an Liedern zusammengekommen. Darunter auch das Lied „Gott gebärdet gern“, das originär in Gebärdenpoesie gedichtet wurde. Es ist das Lieblingslied von Judith und Marina, „denn es spiegelt die Gehörlosenkultur wider“, erklären sie.
Mitmachen beim Chor kann „eigentlich jeder, der Gebärdensprache kann und Lust auf Poesie hat“, meint Chorleiter Wolfgang. Aber, fügt er hinzu, „die Kenntnisse sollten schon fortgeschritten sein“. Teamfähigkeit ist dem Chor auch sehr wichtig, und eben eine Verbindung zur Gehörlosenkultur.
Aktuell arbeitet der Chor an „Die Gedanken sind frei“. Sie haben das Lied in Gemeinschaftsarbeit übersetzt und einstudiert. Es soll beim Sommerfest der Gehörlosengemeinde am 9. August zur Aufführung kommen.
Der Gebärdenchor Berlin tritt regelmäßig in den Gottesdiensten der Gehörlosengemeinde auf. Zudem wirkt er bei Projekten in der Berliner Philharmonie, verschiedenen Musicals und Konzerten zusammen mit hörenden Chören mit und entwirft eigene Konzertprogramme.
Wer ihn live erleben möchte, ist zum Sommerfest am 9. August, ab 14 Uhr in der Bernburger Straße 3–5, Berlin-Kreuzberg, herzlich eingeladen. Ein Gebärdensprachdolmetscher ist vor Ort.
Weitere Informationen und Termine bei Elisabeth Andersohn,
E-Mail: andersohn-berlin@web.de.