Es ist Hagar, die Vertriebene, die Flüchtende, die Gott den ersten Namen der Bibel gibt. Gedanken zur Jahreslosung
Von Christian Stäblein
Du musst ja nicht mal wie sonst die Augen zusammenkneifen, um sie scharf zu stellen, also übertragen jetzt. Diese Jahreslosung strahlt sofort. Gesehen werden. Von Gott. Das ist sein Wesen, dass er sich zeigt. Mir und Dir sich zeigt. Da kannst Du Dir schon mal die Augen reiben, so klar und eingängig ist die Losung für 2023. Als ob die Losungskommission vor zwei Jahren schon wusste: Schwierige Zeiten brauchen klare Worte. Und Gottes gute Nachricht lebt nicht von Kompliziertheit, sondern von Direktheit. Du bist ein Gott, der mich sieht.
Denkst Du auch sofort, dass da für jeden und jede etwas drin steckt? Oh ja, für den und die Einzelne, je individuell, ist das seine, ihre Botschaft. Du heißt es ausdrücklich. Und mich. Damit lässt sich der Tag beginnen und beenden, jeder Tag im noch frischen neuen Jahr. Vielleicht ist die Jahreslosung etwas wie die Schlussformel für Dein tägliches Morgen- oder Abendgebet in 2023. Merken lässt sie sich ja leicht. Und in ihr schwingen die vertrauten Segensworte: Lasse das Angesicht leuchten über Dir und sei Dir gnädig. Also: Sehe Dich gut an.
Das ist Segen. Gott sieht Dich. Und sieht Dich gut an. Aber nicht nur für uns individuell ist das eine gute Nachricht, mindestens genauso kollektiv, gesellschaftlich, ja gesellschaftskritisch. Nicht gesehen werden, gefühlt oder real – das ist ein zentrales Leid unserer Tage. In dieser Hinsicht ist die Jahreslosung so modern und passend für unser Medienzeitalter, in dem das erste Gebot zu lauten scheint: Was nicht medial erscheint und so gesehen wird, existiert nicht. So dass Du kaum glauben magst, dass diese Worte mindestens so um die 2 500 Jahre alt sein dürften. Das Gebot der Moderne haben Bert Brecht und Kurt Weil vor knapp 100 Jahren in eingängige Töne gebracht: Und man sieht nur die im Lichte, die im Dunklen sieht man nicht. So ist es bei Gott nicht, sagt die Jahreslosung, sagt die Bibel auf jeder Seite. Wie zum Beweis musst Du nur die Geschichte drum herum lesen, aus der das kurze Losungswort stammt: Es ist Hagar, die schwanger von Sarah in die Wüste geschickt, dort auf diesen Gott trifft, der sich eben in der Wüste zeigt und der diese Wüste zum Brunnen macht. Es ist Hagar, die Vertriebene, die Flüchtende, die Gott den ersten Namen der Bibel gibt: Du bist ein Gott, der mich sieht.
In dieser Wüste zeigt sich Gott
Die Jahreslosung ist für scheinbar Übersehene, für scheinbar Verlorene. Zur Kraft der Bibel und zur Stärke der jüdischen Erzählung gehört es, eine solche, mit der eigenen Tradition ziemlich kritische Geschichte nicht verdrängt und verschwiegen zu haben. Im Gegenteil. In dieser Wüste zeigt sich Gott. Das ist meine, unsere, Deine Hoffnung in diesem Jahr. Für die Menschen in der Ukraine. Für die Frauen im Iran und in Afghanistan. Gott ist ein Gott, der nicht wegsieht. Kein abstrakter Über-Allem-Gott, ein konkret werdender Gott. In der lutherischen Tradition nennt man es das „pro me“, zu Deutsch: das „Für mich“. Gott hat etwas mit meinem Leben zu tun. Mit Deinem. Sieh nur! Meine erste Reaktion beim Hören der Jahreslosung, die ich hier und da auch schon bei anderen vernommen habe: Schon wieder? War das nicht gerade erst die Jahreslosung? Vor dem inneren Auge tauchen dann aber womöglich die Bilder vom Kirchentag 2017 und seiner Losung auf. Berlin. Potsdam. Wittenberg. Freundliche Augen auf orangenem Hintergrund. Du siehst mich. Das war gerade erst und ist doch schon sechs Jahre her. Vor der Pandemie, vor der Zeitenwende, gefühlt eine Ewigkeit her. Und doch gerade erst? Es ist die beste Botschaft, die diese Zusage Gottes in mir auslösen kann: War doch gerade. Gott hat Dich gerade gesehen, das kannst Du glauben. Gott sucht und sieht Dich in 2023. Gerade erst. Schon wieder. Immer wieder. Jetzt.
Christian Stäblein ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.