Frau Pfarrerin Bertheau, wie müssen wir uns Ihren Alltag vorstellen?
Viele Kilometer zu Fuß. Lange Wege durch Flure, viel Treppensteigen auf drei Etagen. Und viele Gespräche mit Patient:innen, aber auch mit Pflegepersonal und Ärzt:-innen.
Wie kommt es zu diesen Gesprächen?
Oft über Angehörige. Gestern zum Beispiel rief mich die Tochter eines Patienten an: „Könnten Sie meinen Vater besuchen? Wir haben den Eindruck, ihm fehlt der Lebensmut.“ Sie und ihre Schwestern, so die Anruferin, leben hunderte Kilometer von Berlin entfernt. Sie können nicht so oft beim Vater sein, wie sie es gern möchten. Gleich, unmittelbar nach unserem Interview, werde ich ihren Vater besuchen.
Ihr erster Satz?
Mein Name ist Gesine Bertheau. Ich bin Seelsorgerin im Krankenhaus und ich möchte mich Ihnen vorstellen.
Und dann?
Sehr, sehr selten werde ich abgewiesen. Am häufigsten ist: „Schön, dass Sie kommen.“ Oft gefolgt von: „Aber ich bin gar nicht in der Kirche.“ Dann sage ich: „Das spielt keine Rolle, ich komme Ihretwegen.“ Das ist erleichternd. Daraufhin erfahre ich manchmal auch, was dazu geführt hat, dass Menschen sich von der Kirche abgewendet haben.
Ich nehme an: Das Wichtigste ist das Zuhören?
Natürlich. Krankheit ist das erste Hauptthema. Dann kommen wir auf das zu sprechen, was sie in ihrem Leben stark gemacht hat, woran sie anknüpfen können. „Sie sind Seelsorgerin? Ach, ist es bei mir so weit?“ Manchmal sind die Patienten geprägt durch Bilder, die sie aus Filmen oder Fernsehspielen kennen. Letzte Ölung, Krankensalbung.
Wünschen Patienten, von Ihnen gesegnet zu werden?
Ich erlebe weniger, dass darum gebeten wird, sondern ich biete den Segen an, buchstäblich als ein Geschenk des Himmels. „Muss ich jetzt irgendwas machen?“, fragen manche. „Nein, ich lege Ihnen die Hände auf den Kopf und spreche den Segen.“ Sie schließen die Augen, kommen zu innerer Ruhe und Andacht.
Nicht alle sind in Einzelzimmern. Kann man eine intime Spiritualität erfahren, wenn es unfreiwillige Zuhörer gibt?
Auf der Palliativstation sind wir in der Regel allein in Einzelzimmern. Wenn nicht, dann kommt es manchmal zu unerwarteten Begegnungen. In der vergangenen Woche war ich bei einer schwerkranken Patientin. Kurz wandte ich mich der Bettnachbarin zu. Sie flüsterte: „Sie betet jeden Abend vorm Einschlafen. Erst habe ich selbst das Vaterunser nicht mehr so richtig gekonnt. Aber jetzt bete ich es immer wieder mit.“ Das sind Augenblicke, wo ich als Seelsorgerin denke: Dieses Krankenhaus kann ein heiliger Raum sein.
Wann kommen Sie an die Grenze ihrer seelsorgerischen Arbeit?
Das Gefühl von absoluter Hilflosigkeit habe ich immer wieder bei Intensivpatienten, mit denen ich nicht sprechen kann. Sie sind an Beatmungsgeräten angeschlossen. Ich bin fast unkenntlich hinter Schutzkleidung und Maske. Seelsorge lebt nun mal von der Sprache, vom Austausch, von Gesten und Mimik, von Berührungen. Aber es gibt einen Weg, den ich immer wieder gehe. „Ich atme mit Ihnen“, sage ich dann. Ich gehe in den gleichen Atemrhythmus. Das schafft eine Verbindung, wenn ich mich an den Atem des Patienten, der Patientin anpasse, dem Rhythmus folge. So stelle ich mich auf ihn oder sie ein.
Was hat sich für Sie durch Corona geändert?
Die Gespräche auf der Covid-Station sind länger, der Austausch mit Patienten und ihren Angehörigen ist oft sehr belastend.
Zum Beispiel?
Als ich einen alten Herrn begleitet habe, der seine Frau auf der Covid-Station besuchte. Dafür haben wir hier in der Klinik eine Art Rund-um-die-Uhr-Bereitschaftsdienst aus Seelsorgern und Psychologen eingerichtet, damit immer ein Begleiter für Angehörige da sein kann. Seine Ehefrau war schwer dement und an Covid erkrankt. Er musste sich komplett in Pflegekleidung schützen, Visier, Handschuhe. „Wir waren so innig miteinander, wir haben immer ganz viel Körperkontakt gehabt“, sagte er. Das ist in der Demenz das Schönste und Wichtigste und Beste! Er hat an diesem Bett gesessen, seine Frau angesprochen, die aber gar nicht mehr kognitiv erreichbar war, und berühren durfte er sie nicht. Das ist eine meiner schwersten Erfahrungen: Dass Menschen nach 60 Jahren Ehe ihren Partner so verabschieden müssen. Die Frau ist bald darauf gestorben.
Ist der Tod ein Thema?
Es gibt Menschen, die es tatsächlich bis zum letzten Atemzug nicht wahrhaben wollen oder können, dass sie sterben müssen. Andere, meist ältere Patienten, sagen: „Ich hatte so ein schönes Leben und ich kann jetzt gehen.“ Manchmal frage ich: „Haben Sie einen Blick über den Horizont hinaus? Irgendeine Vision für danach?“ Der Gedanke daran, die Menschen wieder zu sehen, um die man trauern musste, ja, das ist eine starke Hoffnung, von der mir immer wieder erzählt wird. Und: Keine Schmerzen mehr zu haben. Dass das Leiden zu Ende ist.
Haben Sie selbst Angst vor Corona?
Ja, aber nicht so sehr um mich selbst, sondern davor, dass ich Träger des Virus sein könnte, dass ich ihn hier und in der Familie verbreiten könnte. Das ist für mich das Belastendste in dieser harten Zeit. Aber wir Seelsorger sind sehr gut geschützt. Wir gehörten zu den ersten, die hier in der Klinik geimpft und geboostert wurden. Weil man will, dass wir bei den Patientinnen sein können.
Aber auch bei den Pflegern, Schwestern, Ärzten ...
Auch mit ihnen tausche ich mich ständig aus, mal auf dem Flur, mal auf Station. „Wie geht es Dir?“ Gerade jetzt wieder stehen alle Mitarbeiter unter einer großen Anspannung. Sie haben sich von Welle zu Welle eigentlich noch gar nicht erholt.
Alle haben zu Hause eine Familie. Die Kinder waren oft im Homeschooling, während ihre Mütter und Väter hier volle Schicht arbeiten. Oder sie haben eigene Eltern, die im Pflegeheim oder im Krankenhaus sind und nicht ausreichend besucht werden können. Das sind alles Menschen, die neben ihrem Beruf noch ein persönliches Umfeld haben. Das dürfen wir nicht vergessen.