Herr Reichelt, wie kam es zu dem Zentralen Runden Tisch?
Die neuen Gruppen und Parteien in der DDR, wie das Neue Forum, die neu gegründete Sozialdemokratische Partei (SDP) oder die Initiative Frieden und Menschenrechte, gingen auf die Kirche zu mit der Frage, ob es die Möglichkeit gibt, ein Forum zu schaffen in dieser Übergangszeit. Damals herrschte ein Machtvakuum. Die Regierenden waren aus Sicht der neuen Gruppen nicht mehr autorisiert. Aber die neuen Gruppierungen hatten kein Mandat. Der Runde Tisch wurde eingerichtet, um diesen Übergang zu moderieren und zu gestalten.
Warum sind die Gruppen auf die Kirchen zugegangen?
Für die Opposition war aus dem politischen Bereich in den Blockparten niemand ein glaubwürdiger Ansprechpartner. Die Kirche hat den oppositionellen Gruppen in den Jahren vor 1989, wenn auch zum Teil widerwillig, – das muss man auch sagen, – Raum gegeben und damit die Möglichkeit sich zu treffen, unter anderem Friedensgebete zu veranstalten. In der Kirche konnten sich Leute einigermaßen geschützt versammeln, beispielsweise die Umweltbibliothek in der Zionskirche. Die Kirchenvertreter hatten damit so eine Art Mittlerfunktion. Auf der einen Seite hatten sie zu den staatlichen Stellen Kontakt. Auf der anderen Seite, je nach Gemeinde, auch guten Kontakt zur Opposition.
Wer saß mit am Tisch?
Vertreter der Blockparteien, der sogenannten Massenorganisationen, unter anderem der Frauenbund, und der neu gegründeten Gruppen, maximal je drei. Am bekanntesten waren das Neue Forum und die Sozialdemokratische Partei (SDP). Am Runden Tisch saßen keine Kirchenvertreter. Die Kirche hatte nur die Moderatorenrolle. Die drei Moderatoren, Pastor Martin Ziegler, Leiter des Sekretariats des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, der katholische Priester und Vertreter der Berliner Bischofskonferenz, Karl-Heinz Ducke und der Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche, zu der Zeit Sekretär der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der DDR, Martin Lange. Sie hatten kein Stimmrecht und achteten sehr stark auf ihre neutrale Rolle.
Was war Ihre Aufgabe?
Es war vieles zu organisieren für das wöchentlich tagende Instrument Runder Tisch. Dafür wurde ein Arbeitssekretariat gebildet, für dessenLeitung freigestellt wurde von meiner Tätigkeit als Leiter der Reisestelle beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Das Sekretariat koordinierte die Arbeit zwischen den Sitzungen, erstellte Vorlagen und Protokolle und verteilte sie und hielt Kontakt zu den staatlichen Stellen. Keine der Gruppen hatte ein Kopiergerät. Ab Anfang 1990 hatte ich mit meinen drei Mitarbeitenden zwei Büros im Schloss Niederschönhausen, wo ab Januar der Runde Tisch tagte. Vom ersten Tag an gab es Wäschekörbe voller Post, die wir beantworteten. Auch Kinder schrieben Briefe.
Der Runde Tisch beschloss die Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit (Stasi). Da saßen DDR-Blockparteien am Tisch, wie war die Atmosphäre?
Es ging mitunter hart zur Sache. Während einer Sitzung Anfang des Jahres beispielsweise kam die Meldung, das Hauptquartiers der Stasi in der Berliner Normannenstraße in Lichtenberg wird gestürmt. Die Sitzung wurde unterbrochen und Teilnehmende des Runden Tischs fuhren in die Normannenstraße.
Die Sitzungen dauerten mitunter zehn bis zwölf Stunden. Es wurde auch hart diskutiert und gefordert: Wir klare Aussagen zu Fragen an den Ministerrat bekommen und dafür den Ministerpräsidenten Hans Modrow hier am Tisch haben. Er kam dann auch. Vorher saß dort ein Vertreter des Ministerrates, der nur herumdruckste und dem das Misstrauen ausgesprochen wurde. Wir hatten den Eindruck, es wurde auf Zeit gespielt, damit Akten vernichtet und beiseite geschafft werden konnten.
Nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 wurde der Runde Tisch aufgelöst. Die Verfassungsgruppe tagte noch bis Ende März, bis der Verfassungsentwurf fertig war. Doch die neue Volkskammer behandelte ihn dann gar nicht. Ist da der Runde Tisch gescheitert?
Der Prozess war wichtig, insofern war er nicht umsonst. Aber es war natürlich auch ein Scheitern für die Arbeitsgruppe insofern, als die Volkskammer den Entwurf nicht behandelte. Und eine große Enttäuschung. Die Arbeitsgruppe hatte ja die Hoffnung, dass in Zukunft weder das Grundgesetz noch die DDR-Verfassung gelten, sondern etwas, was darüber hinausgeht.
Wäre für Sie so ein Runder Tisch auch heute ein gutes Modell, um mit Gruppen nach Lösungen für Probleme zu suchen?
Nicht in dem Sinne des damaligen Runden Tisches, wo es ein Machtvakuum gab und das Volk denjenigen, die gewählt waren, nicht mehr traute und sich von ihnen nicht repräsentiert fühlte. Das, was ich mir gut vorstellen könnte, ist, einen Raum zu haben, wo man sich wieder zuhört und miteinander redet. Ich finde, das fehlt. Nicht als Entscheidungsort, an dem Politik gemacht wird, sondern um miteinander ins Gespräch zu kommen.
30 Jahre nach seiner ersten Sitzung tagt der Runde Tisch am 7. Dezember, von 14 bis 19 Uhr, wieder im Kirchsaal der Brüdergemeine im Dietrich-Bonhoeffer-Haus, Ziegelstraße 30/31, Berlin-Mitte. Er diskutiert das gesellschaftliche Zusammenlebens in unserem Land.
Infos: www.zentraler-runder-tisch.de