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Innehalten. Stille finden. Gott nahe sein.

Den Alltag einen Moment zu unterbrechen tut gut. Und schützt angesichts wachsender sozialer Beschleunigung und des Drucks der Selbstoptimierung

Foto: Kerstin Riemer/pixabay

Von Günter Hänsel

Zwölf Uhr. Die Glocken läuten. Ich höre sie von Weitem. Ich halte an und werde ruhig. Ich schließe die Augen. Meine Aufmerksamkeit richtet sich ganz auf meinen Atem. Ich lebe! Mein Atem hält mich am Leben, versorgt mich und lässt mich in diesem Moment ganz ruhig werden. Mitten in der Stadt innezuhalten, um mein Tun einen kleinen Augenblick zu unterbrechen. Ich spüre, dass ich zur Ruhe komme. Meinen aufgewühlten Gedanken und meinen Gefühlen gebe ich jetzt einen Raum. So wie ich jetzt bin, bin ich vor Gott.

Den Alltag einen Moment zu unterbrechen und innezuhalten sind Haltungen, die dem Leben guttun angesichts wachsender sozialer ­Beschleunigung und des Drucks der Selbstoptimierung. Das Leben als ständiges Abarbeiten von To-do-Listen – anstrengend! Es ist dadurch in Gefahr, einer völligen Erschöpfung zu unterliegen!

Deshalb bin ich davon überzeugt: Das Leben braucht Zeiten der Stille und der Unterbrechung – Freiräume! Zeiten des Innehaltens, des Hörens und Schweigens. Sie sind zweckfrei! Diese Zeiten und Orte laden dazu ein, das eigene Leben in einen weiten Horizont zu stellen und damit auf eine andere Weise zur Welt, zu sich selbst und (vielleicht auch) zu Gott in Beziehung zu ­treten.

In der Schöpfungsgeschichte wird erzählt, dass Gott den siebten Tag segnet und heiligt. Gottes Ruhen am siebten Tag ist es, was dem Schöpfungswerk seine Vollendung verleiht. Vom Shabbat geht die befreiende Botschaft und Einladung aus, Stille und Ruhe einen Raum zu geben, damit die Seele neue Kraft schöpfen kann. Ruhezeiten können zu einem Ort der Gottesbegegnung werden.

Stille kommt von "stehen bleiben"

Der Philosoph Byung-Chul Han schreibt zur Bedeutung der Stille: "Die Stille lässt horchen. Sie geht mit einer besonderen Empfänglichkeit, mit einer tiefen, kontemplativen Aufmerksamkeit einher." Kritisch merkt er an: "Der heutige Zwang zur Kommunikation führt dazu, dass wir weder die Augen noch den Mund schließen können. Er entweiht das Leben."

Das Wort Stille kommt von "stehen bleiben". Still werden bedeutet also, dass ich stehen bleibe, um mich dem zuzuwenden, was mich gerade bewegt und was ist. Im Stillwerden bin ich ganz bei mir. Meine Gefühle und Gedanken sammeln sich. Zerstreutes ordnet sich. Die leisen ­Stimmen in meinem Inneren kommen hervor und verschaffen sich Gehör. Stimmen, die ich sonst zurückgehalten habe, treten jetzt nach vorne.
Menschen suchen im Wald, in den Bergen, in Kirchen oder am Meer die Stille; so stellt sich während des Spaziergangs am Meer eine vollkommene und weite Stille ein. Ich erlebe, dass ich verwandelt vom Meer zurückkehre. In solchen Momenten erinnere ich mich an die Erfahrung des Elia. Nicht im Sturm, im Erdbeben oder im Feuer ist Gott, sondern in einem stillen, sanften Sausen (1. Könige 19, 12). Mich berührt diese Erfahrung: Im Leisen, im Zarten und im Stillen kann Gott ­erfahren werden. Zeiten der Stille ermöglichen Gotteserfahrungen! Die mystische Tradition erzählt in ­beeindruckender Weise davon, dass Wege in die Stille zu Gottesbegegnungen im Inneren des Menschen werden können. Die Theologin Dorothee Sölle drückt es mit den Worten aus, dass "in jedem Menschen ein winziges bisschen Gott versteckt ist, ein Funke – wie die Mystiker auch gesagt haben – von dem großen Funken. Ein Funke auch in dir". Für Dorothee Sölle ist auch klar: "Das Christentum des dritten Jahrtausends wird entweder mystisch oder untergehen."

Gott erkennt uns in der Liebe und im Glück menschlichen Lebens

Im Stillwerden und dem Stehenbleiben werde ich achtsam und aufmerksam für den Augenblick, für die Regungen meines Lebens, die ­Fragen, meine Gefühle, Gedanken und für die Schönheit des Lebens. Der Theologe Fulbert Steffensky ­beschreibt Spiritualität als "geformte Aufmerksamkeit" oder "als Einheit des Lebens".

Im Aufmerksamsein stellt sich ein anderes Verhältnis zur Welt ein: Von der Not des Anderen lasse ich mich berühren. Der Reichtum des Lebens wird mir bewusst. Die Schönheit der Natur bewegt mich. In der Liebe und im Glück menschlichen Lebens erkenne ich Gott. Im Gelingen des Lebens erfahre ich etwas von Gottes Spuren und seinem lebendigen Geist in dieser Welt. In der Stille komme ich zur Ruhe und erfahre Klärung.
In all diesen Erfahrungen kann sich eine tiefe Verbundenheit alles Seienden einstellen. Sie werden zu Erfahrungen und Räumen, in denen Gott als Raum wahrgenommen wird, in dem wir „leben, weben und sind“ (Apostelgeschichte 17, 28). Das Leben und seine Beziehungen werden als in sich verbunden und verwoben erfahren.

Im Alltag kleine Zeiten der Stille einbauen

Solche Erfahrungen lassen sich nicht erzwingen, planen oder im Modus von Leistung, Beherrschung und Druck herbeiführen. Sie sind ­Geschenk. Unverfügbar. Es gibt keine To-do-Liste, die verspricht, Gott zu erfahren. Allem voraus geht das Versprechen Gottes, dass er sich vom Menschen findet lässt, wenn dieser ihn von ganzem Herzen sucht (Jeremia 29, 13f.), doch zugleich bleibt Gott unverfügbar.

Möglich ist es, Freiräume zu schaffen, Orte, an denen ich aufatmen kann, zu suchen und Haltungen des Innehaltens, des Einlassens, des Verweilens, des Hörens, des "Einfach da sein" einzuüben. In der christlichen Tradition sind unterschiedliche Formen und Wege eingeübt worden, die in die innere und äußere Stille führen und Räume eröffnen. In ihnen stellt sich eine tiefe Verbundenheit mit und in Gott ein. Rituale und Übungswege, wie Zeiten der Stille im Tagesablauf, das Betrachten einer Ikone, das Lesen biblischer Texte, die Meditation, zum Beispiel mit der Gebetsweise des "Herzensgebet", das Singen, das Hören von Texten und Gesängen, das Schweigen, das Tanzen, das Pilgern, das Feiern des Gottesdienstes, eröffnen "Antworträume" für die Sehnsucht und Begegnung mit Gott, die der Sehnsucht Gottes nach uns Menschen vorausgeht. Im Alltag kleine Zeiten der Stille und des Innehaltens einzubauen wäre ein schöner Anfang. Nur Mut dazu!

Günter Hänsel ist Vikar in der Kirchengemeinde Berlin-Frohnau.

Zum Beginn der Fastenzeit, am 29. Februar (11 Uhr) bis zum 1. März (11 Uhr) findet „Ein geschenkter Tag“ zum Innehalten in der evangelischen Johanneskirche in Berlin-Frohnau statt. Die Kirche wird 24 Stunden als Kraft- und Quellort geistlichen und spirituellen Lebens geöffnet. Gemeindeglieder und alle an neuen spirituellen Formen ­Interessierten sind willkommen. 

Das ausführliche Programm und weitere Informationen unter: www.ekg-frohnau.de

 

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1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

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