Von Uwe Baumann
Meine Großmutter machte mir die Bibel mit einem einfachen Ritual „schmackhaft“. Sie redete tagsüber nicht viel, las aber regelmäßig am Abend in der Sonne auf der Bank vor dem Haus in dem zerfledderten Buch. Nach einer Weile legte sie es zur Seite und wir gingen in den Garten. Dort gab es dann noch ein „Betthüpferle“ – eine Handvoll Obst. Schöne Kindheitserinnerungen. Die biblischen Geschichten kamen mir später wie gute Bekannte vor. Meinen Eltern war das nicht geheuer, schließlich sperrten die sozialistischen Spitzel die Ohren doppelt weit auf, wenn Jugendliche anfingen, „von Gott und solchem Zeug zu fantasieren“. Die Großmutter behauptete jedoch: „In diesem Zeug liegt unsere Freiheit.“
Nach dem Mauerfall war die Großmutter erstaunt, dass für viele Nachbarn die Glückseligkeit nun hauptsächlich darin bestand, Besitztümer anzuhäufen. Sie schüttelte darüber den Kopf: „Da liegt kein Segen drauf“ und sie meinte, die Leute hätten schnell das Interesse aneinander verloren. Es gäbe jetzt eine bessere Liebe und auch einen größeren Gott, den man anbeten könne: Konsum. Ringsherum wurde alles neu – Fassaden, Autos, Frisuren. Auch die Gespräche mit den Nachbarn drehten sich meist ums Kaufen. Und wohin die nächste Flugreise geht. Und dass man sich demnächst eine „lukrative“ Eigentumswohnung anschauen würde. Irgendwann, kurz vor ihrem Tod, bat die Großmutter: „Junge, versprich, dein Herz nicht an irgendwelchen Reichtum zu hängen.“ „Von Luft und Liebe allein kann man aber nicht leben“, sagte daraufhin mein Vater. – Doch, kann man. Ich kann das und es hat bis heute funktioniert.
Uwe Baumann ist Wirtschaftswissenschaftler, Medienentwickler und Lektor im Kirchenkreis Lichtenberg-Oberspree.